Rund um den Abschuss des Fluges MH17 der Malaysia Airlines über der Ostukraine haben russische Propagandamedien ein ganzes Netz von Verschwörungstheorien und Falschmeldungen geknüpft. Sie versuchen damit davon abzulenken, dass ein russisches Buk-Luftabwehrsystem den Absturz verursachte, das zudem von Russland in die Ostukraine verschoben und nach dem Einsatz dorthin zurückgeführt wurde. Aufwendige und akribische internationale Untersuchungen haben diesen Ablauf mit vielen Belegen untermauert.
298 Menschen starben, als Flug MH17 am 17. Juli 2014 über der umkämpften Ostukraine abgeschossen wurde. Unter den Opfern befanden sich 80 Kinder. Es handelt sich um eines der grössten Kriegsverbrechen der letzten Jahre.
Bereits kurz nach dem Abschuss kamen zahlreiche Verschwörungstheorien und irreführende Verwechselungsgeschichten durch russische Propagandamedien in Umlauf. Diesen Akteuren ging es nicht darum, die Öffentlichkeit von einer bestimmten Variante zu überzeugen. Vielmehr sollte durch die Vielzahl der unterschiedlichen und sich zum Teil widersprechenden Theorien Verwirrung entstehen. Ziel dieser Art von Desinformation ist es, dass Menschen aufgeben, nach der Wahrheit zu fragen.
Keine halbe Stunde nach dem Absturz der Passagiermaschine feiert der Oberkommandierende der prorussischen Separatisten im Donbass, Igor Girkin, den Abschuss eines ukrainischen Militärjets. Girkin geht zu diesem Zeitpunkt also vom Abschuss einer militärischen ukrainischen Antonov 26 durch eigene Kräfte aus.
Er schreibt auf seiner Profilseite des russischen Facebook, Vkontakte: „Wir haben euch gewarnt, fliegt nicht durch unseren Himmel.”
Die Meldung bekommt in kurzer Zeit über 2000 Gefällt-mir-Klicks. Dann wird sie gelöscht. Später behauptet Girkin, einst russischer Geheimdienstoberst, der Eintrag sei eine Fälschung gewesen.
Verschwörungstheorien zum MH17-Abschuss
Pro-russische Online-Medien präsentierten ab dem 31. August 2014 in einem neunminütigen Video eine angebliche Zeugin des Absturzes. Die Frau, die nicht selbst gezeigt wird, behauptete, 20 Minuten nach dem Absturz vor Ort gewesen zu sein und berichtete über Leichen, die nach Formalin gerochen hätten, blutleer gewesen seien und wie „eingelegt“ ausgesehen hätten. Sie bezeichnete die Leichen als Schaufensterpuppen. Die angebliche Zeugin behauptete auch, dass es ihr gelungen sei, Fotos von gefundenen Handys, Fotoapparaten und Tabletcomputern der Toten sichtbar zu machen. Sie sagte, dass sie dabei keine Bilder aus dem Jahr 2014 gefunden habe.
Eine vergleichbare Behauptung hatte der prorussische Rebellenführer Igor Girkin (Igor Strelkow) bereits am 18. Juli 2014, also einen Tag nach dem Abschuss aufgestellt, was sich dann weiterverbreitete. Das Flugzeug sei mit Autopilot geflogen und an Bord hätten sich Leichen befunden. Eine weitere pro-russische Website verbreitete Vermutungen über eine „US Provokation mit der Boeing“ und behauptete fälschlich, dass die Boeing in einem für Flugzeuge gesperrten Luftraum geflogen sei.
Der deutsche Verschwörungstheoretiker Gerhard Wisnewski kam in einer Publikation des Kopp Verlags zum Schluss, dass es sich beim Flug MH17 um ein Phantom handele und die Leichen „Dosenfleisch“ seien. Ein weiterer deutscher Verschwörungstheoretiker verbreitete im Anschluss an Strelkow ein Bild, das beweisen soll, dass sich aufgeblasene Gummipuppen am Absturzort befinden würden, und keine Leichen.
In diesen pro-russischen Erzählungen wird der Absturz als grossangelegte Inszenierung dargestellt, wodurch es sich klar um Verschwörungstheorie handelt. Dadurch werden die Opfer und ihre Angehörigen unsäglich verhöhnt. Es liegt hier ein ähnliches Muster vor wie bei den Verschwörungstheorien um den Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School. Auch hier wird das Verbrechen als Inszenierung dargestellt.
Der Mitarbeiter des russischen „Bundes-Informationszentrums für Analysen und Sicherheit“, Sergej Sokolow, verbreitete aber auch eine Variante, dass die CIA zwei Bomben an Bord der MH17 platziert hätte.
Falschmeldungen und Verwechslungsgeschichten zum MH17-Abschuss
Zum Abschuss von Flug MH17 kursieren auf russischen Propagandamedien wie RT Deutsch viele Falschmeldungen und „Verwechselungsgeschichten“. Sie sollen nicht zur Darstellung der Ereignisse beitragen, sondern Verwirrung stiften. Oft werden in diesen Fällen tatsächlich beweisbare Fakten mit falschen Behauptungen vermischt. Früher nannte man diese Nachrichten auch graue Nachrichten, zur Unterscheidung von weissen Nachrichten mit Wahrheitsgehalt und schwarzen Nachrichten als vollständige Fälschungen.
Präsentiert werden angebliche Zeugenaussagen, angebliche Satellitenbilder oder Telefonmitschnitte ungeklärter Herkunft.
In russischen Massenmedien wurden viele verschiedene und sich widersprechende Abschusserklärungen verbreitet. So sei die Boeing 777 spontan in der Luft zerbrochen, eine Bombe sei an Bord explodiert, die Maschine sei von einer ukrainischen Boden-Luft Rakete abgeschossen worden, ein ukrainischer Kampfjet hätte geschossen, oder die USA hätten die Boeing 777 abgeschossen. Und wie schon erwähnt war zu lesen, dass die Passagiere bereits beim Abflug tot gewesen seien.
Auch der Schweizer Daniele Ganser beteiligte sich an der Spekulation, dass ein ukrainisches Kampfflugzeug den Passagierjet abgeschossen hätte.
Zum Abschuss von MH17 finden sich also viele propagandistisch motivierte Falschmeldungen, die nicht im eigentlichen Sinn Verschwörungstheorien sind. Doch die Übergänge sind fliessend.
Die Widerlegungen und die detaillierten Quellenangaben zu diesen Verschwörungstheorien und Falschmeldungen sind zu finden auf Psiram.
Propagandistische Ablenkungsmanöver
Das Regime in Russland versucht mit allen möglichen Propagandamitteln von der eigenen Verantwortung abzulenken. Die Anwesenheit eines russischen Buk-Luftabwehrsystems in der Ostukraine ist ein starkes Indiz für die Anwesenheit von russischen Panzern in dieser Region. Russische Panzer gehen nicht ohne Luftabwehr in den Einsatz. Der Kreml verschleiert die Anwesenheit von russischen Bodentruppen. Deshalb muss auch die Anwesenheit der Buk verschleiert werden.
Die Belege für den Abschuss von MH17 durch ein Buk-Luftabwehrsystem aus Russland wurden von verschiedenen Seiten zusammengetragen.
Die Recherche-Organisation Correctiv veröffentlichte am 9.1.2015 einen ausführlichen Bericht: Flug MH17 – Die Suche nach der Wahrheit.
Am 8. Oktober 2015 veröffentlichte die Recherche-Organisation Bellingcat ihren Bericht:
MH17- Die Beweise aus öffentlichen Quellen.
Bellingcat ist spezialisiert auf die Auswertung von Informationen aus öffentlichen Quellen, zum Beispiel aus den Sozialen Medien. Eliot Higgins hat mit seinem Team den Weg der Buk-Rakete akribisch genau nachgezeichnet. In der Zusammenfassung kommt der Bericht zu folgendem Schluss:
«Auf der Grundlage der zuvor aufgeführten Informationen kann der Schluss gezogen werden, dass am 17. Juli 2014 ein Buk-Raketenwerfer der 53. Flugabwehrbrigade aus Kursk (Russland) von Donetsk nach Snizhne unterwegs war. Dort wurde er abgeladen und fuhr selbständig zu einem Feld südlich von Snizhne, wo er ca. 16:20 Uhr eine Boden-Luft-Rakete abschoss, die dann Malaysia Airlines Flug MH17 beim Überflug über die Ukraine traf. Am Morgen des 18.Juli2014 wurde der Buk-Raketenwerfer via Luhansk (Ukraine) zurück nach Russland über die Grenze transportiert.
Die alternativen Szenarien, die das russische Verteidigungsministerium und der Waffenhersteller Almaz-Antey präsentiert haben, sind im besten Fall äußerst mangelhaft, und im schlimmsten Fall eine bewusste Irreführung mit fabrizierten Beweisen.»
Offizielle Untersuchungen
Die offiziellen Untersuchungen zum MH17-Abschuss wurden mit internationaler Beteiligung hauptsächlich von Behörden der Niederlande durchgeführt. Sie waren sehr aufwendig, ausdauernd und akribisch. Ein Überblick der durchgeführten Ermittlungen ist zu finden auf Wikipedia.
Für die Flugunfalluntersuchung war die niederländische Behörde Onderzoeksraad voor Veiligheid (OVV, dt. „Untersuchungsrat für Sicherheit“, engl. Dutch Safety Board, DSB) verantwortlich. Der Abschlussbericht zur Flugunfalluntersuchung erschien am 13. Oktober 2015. Er kam zum Ergebnis, dass unmittelbar links über dem Cockpit von MH17 eine Buk-M1-Flugabwehrrakete explodierte. Dabei starben drei Personen im Cockpit unmittelbar und der Frontteil des Flugzeugs riss ab. Alle anderen Insassen der Boing verloren innerhalb weniger Momente das Bewusstsein. Der Bericht macht keine Aussagen über die Verantwortlichen des Raketenstarts.
Das Dutch Safety Board hat eine visuelle Darstellung des Abschlussberichts auf YouTube veröffentlicht (englisch):
Hier ein Artikel zum Abschlussbericht:
Flug MH17 wurde von Buk-Rakete abgeschossen (Tagesspiegel)
Die Suche nach den Verantwortlichen für den Abschuss von MH17
Ein internationales Tribunal zur Aufklärung des Abschusses von MH17 kam nicht zustande, weil Russland dagegen im UN-Sicherheitsrat ein Veto eingelegt hat.
Insbesondere die Niederlande und Malaysia, aber auch andere Staaten wie Australien verlangten seit langem ein unabhängiges, internationales Tribunal, um zu klären, wer für den Abschuss verantwortlich ist. Das Tribunal sollte zudem Russland zu einer stärkeren Mitarbeit bei der Tätersuche motivieren.
Trotz elf Ja-Stimmen scheiterte die entsprechende Resolution, weil Russland als eines von fünf ständigen Ratsmitgliedern sein Vetorecht nutzte.
Siehe dazu:
Russland blockiert Tribunal für abgeschossenen MH17-Flug (Tagesspiegel)
Mit Unterstützung der EU-Justizbehörde Eurojust wurde deshalb ein internationales Team für die Kriminalermittlungen (Joint Investigation Team, JIT) gebildet, an dem die Niederlande, Australien, Belgien, Malaysia und die Ukraine beteiligt waren.
Kein Zweifel mehr: MH17 von einer russischen Buk-Rakete getroffen
Am 28. September 2016 stellte die Untersuchungskommission die Resultate der strafrechtlichen Ermittlungen unter anderem auf Basis von mitgeschnittener Kommunikation und Radardaten vor. Demnach war das beim Abschuss verwendete russische Buk-System im Juli 2014 in die Ostukraine gebracht worden. Die Buk-Rakete wurde von einem Acker in der Nähe des Dorfes Perwomaiskij abgeschossen, das südlich von Snischne und östlich von Donezk liegt und im Juli 2014 unter der Kontrolle von Separatisten und ihren russischen Unterstützern stand. Nach dem Abschuss von Flug MH17 wurde das Buk-System zurück nach Russland transportiert.
Artikel dazu:
MH17: Die Rakete kam aus Russland (Tagesspiegel)
Rakete stammte laut Ermittlern aus Russland (Zeit)
Erläuterungen der Niederländischen Staatsanwaltschaft zu den Untersuchungen des JIT hier.
Zusammenfassung der ersten Ergebnisse des JIT am 28. September 2016:
JIT presentation of first results of the MH17 criminal investigation (28-09-2016)
Das JIT veröffentlichte Zeugenaufrufe. Es suchte damit insbesondere auch Zeugen, die anhand von aufgezeichneten Telefonstimmen weitere am Abschuss beteiligte Personen identifizieren könnten.
Seit April 2017 wurde Sergei Dubinski als einer der mutmaßlichen Koordinatoren der Verschiebung des Buk-Systems erwähnt. Der Afghanistan-Veteran wurde von seinem ehemaligen Dienstkameraden Sergei Tiunow an seiner Stimme erkannt. Dubinski gibt in einem vom ukrainischen Geheimdienst mitgeschnittenen Telefongespräch Anweisungen, wohin das Buk-Raketensystem zu bringen ist, das zuvor über die russische Grenze im Donbass eingetroffen war.
Artikel dazu:
«Das waren die Missgeburten aus Moskau» (NZZ)
Im Frühjahr 2018 konnte das JIT den in die Ukraine verbrachten Raketenwerfer definitiv und gerichtsverwertbar der 53. Flugabwehrraketen-Brigade der Russischen Streitkräfte aus Kursk zuordnen.
Das JIT arbeitet zudem daran, die Befehlsketten aufzudecken und persönlich Verantwortliche zu identifizieren.
Internationale Haftbefehle für Verdächtige
Im Juni 2019 nannte das JIT an einer Pressekonferenz die Namen von vier Verdächtigen, die für den Abschuss verantwortlich sein sollen. Drei der Beschuldigten sind Russen: der ehemalige Rebellenkommandeur Igor Girkin (auch Strelkow genannt), Girkins Stellvertreter Sergei Dubinski und der damalige stellvertretende Geheimdienstchef der Rebellen in Donezk, Oleg Pulatow. Ein Beschuldigter ist Ukrainer, Leonid Chartschenko, der zur Zeit des Abschusses eine Rebelleneinheit in der Ost-Ukraine befehligte. Diese Männer sollen für den Transport des Buk-Systems in die Ukraine verantwortlich gewesen sein. Gegen sie stellte die Justiz internationale Haftbefehle aus. Die Chancen, dass sie vor Gericht erscheinen werden, stehen aber schlecht. Russland wird sie nicht ausliefern.
Artikel dazu:
MH17-ABSCHUSS: Keine Zweifel mehr (FAZ)
Im November 2019 veröffentlichten die Ermittler brisante Telefonmitschnitte. Sie weisen darauf hin, dass die Separatisten in der Ostukraine Anweisungen aus Russland erhalten haben. In einem Telefongespräch vom 3. Juli 2014 sagt etwa der selbst ernannte frühere Regierungschef der Rebellen in der nicht anerkannten Volksrepublik Donezk, Alexander Borodaj: «Nun, Sie haben weitreichende Pläne, aber nicht meine. Ich folge Befehlen und schütze die Interessen nur eines Staates, der Russischen Föderation. Das ist im Endeffekt alles.» (Quelle: MH17 Witness Appeal November 2019, Webseite der niederländischen Polizei, englisch). In den Telefonmitschnitten soll unter anderen auch Wladislaw Surkow, ein enger Berater von Kremlchef Wladimir Putin, zu hören sein.
Die Verbindungen zwischen der Führung der Separatisten in der Ostukraine und Moskau seien viel enger als bisher angenommen, erklärte Ermittler Andy Kraag vom internationalen Untersuchungsteam JIT in einer Videobotschaft: „Der russische Einfluss ging weit über Militärhilfe hinaus.“ Mitgeschnittene Gespräche, Zeugenaussagen und andere neue Informationen würden das belegen, sagte Kraag.
Artikel dazu:
MH17-Ermittler veröffentlichen brisante Telefonmitschnitte (Welt)
Interview mit Wim van der Weegen, Direktor für Kommunikation des niederländischen Untersuchungsrats für Sicherheit, der zur Absturzursache von Flug MH17 ermittelte: DARSTELLUNG DER FAKTEN ÜBER FLUG MH17
Fazit
Ziel russischer Propaganda ist es nicht, einer bestimmten Sichtweise zum Durchbruch zu verhelfen. Vielmehr wird zu einem bestimmten Thema wie dem MH17-Abschuss eine grosse Zahl von Falschmeldungen und Verschwörungstheorien in die Welt gesetzt, die sich ohne weiteres auch widersprechen können. Dadurch sollen Chaos, Unübersichtlichkeit und Verwirrung entstehen. Ziel dieser Strategie ist es, dass die Menschen ihre Orientierung verlieren. Sie sollen es aufgeben, nach den Fakten zu suchen und darauf basierend Verantwortliche zu benennen.
Die Aufarbeitung des MH17-Abschusses ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie aufwendig es sein kann, Falschmeldungen und Verschwörungstheorien zu widerlegen und gerichtsfeste Fakten zu finden. Dagegen ist es sehr einfach, Falschmeldungen und Verschwörungsgeschichten in die Welt zu setzen.