Verschwörungsgläubige klagen oftmals über fehlende Meinungsfreiheit, sobald sie mit Kritik an ihren Vorstellungen konfrontiert sind.
Dem liegt ein fundamentales Missverständnis der «Meinungsfreiheit» zugrunde. Meinungsfreiheit bedeutet nicht, alles und jedes ohne Widerspruch äussern zu dürfen.
Die Meinungsfreiheit umfasst nämlich auch, dass jede Äusserung in Frage gestellt werden darf.
Vollends absurd wird die Klage über fehlende Meinungsfreiheit, wenn sie von Leuten geäussert wird, die ihre Verschwörungstheorien permanent auf allen Kanälen verbreiten.
Dass in den Verfassungen freiheitlicher Demokratien die Meinungsfreiheit garantiert ist, bedeutet nicht, dass jede Meinung gleich viel wert ist und gleiche Präsenz in der Öffentlichkeit fordern kann.
Es wäre beispielsweise vollkommen absurd, eine Diskussionsveranstaltung zu machen zum Thema «Die wahre Form der Erde», und dabei einen «Flach-Erdler» mit einem Vertreter der Kugelform streiten zu lassen. Der Eindruck entstünde, dass sich hier zwei gleichwertige Positionen gegenüberstehen.
Ebenso ist es fragwürdig, wenn ein Klimaerwärmungsleugner einem Klimatologen gegenübergestellt wird, der den Konsens der Klimatologie vertritt. Korrekterweise müssten mindestens 95 Klimatologen einem Klimaerwärmungsleugner gegenüberstehen. Nur so wird klar, dass die Klimatologie im Grundsatz mit sehr grossem Konsens die menschengemachte Klimaerwärmung bestätigt. Und dass die Leugnung des menschengemachten Klimawandels wissenschaftlich eine sehr marginale Aussenseiterposition darstellt.
Grenzen der Meinungsfreiheit
Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Doch natürlich sind der Meinungsfreiheit auch gesetzliche Grenzen gesetzt: Beleidigung, Drohung, Verleumdung können unter bestimmten Umständen geahndet werden.
Der Historiker Timothy Garton Ash schreibt:
«Da Meinungsfreiheit nie unbeschränkte Redefreiheit bedeutet hat (jeder gibt alles von sich, was ihm in den Sinn kommt: globaler Sprechdurchfall), muss diskutiert werden, welche Grenzen die Meinungs- und Informationsfreiheit in wichtigen Bereichen wie etwa der Privatsphäre, der Religion, der nationalen Sicherheit oder der Art, wie wir über die Unterschiede zwischen Menschen reden, haben sollte. Genauso wichtig ist die Bestimmung positiver Methoden und Stile, mit denen wir die Sprache als grundlegende Gabe der Menschheit unter den heutigen Bedingungen beispielloser Möglichkeiten und Risiken optimal nutzen können.»
Die Diskussionen um Grenzen der Meinungsfreiheit sind komplex. In den meisten wichtigen Debatten über die Meinungsfreiheit im Westen geht es um die Frage, ob Schaden zugefügt wird oder Menschen beleidigt werden.
Allerdings gibt es verschiedene Arten der Beleidigung und des Beleidigtseins. So kommt es zum Beispiel darauf an, ob eine Beleidigung beabsichtigt war oder unbeabsichtigt erfolgte. Und schliesslich stellt sich die Frage, ob es ein Recht gibt, nicht beleidigt zu sein. Und wie weit der subjektive Anteil am Beleidigtsein zu berücksichtigen ist.
Wenn es um Schaden bzw. Unheil geht, das durch Einschränkung der Meinungsfreiheit abgewendet werden soll, kommt oft eine klassische Definition von John Stuart Mill (1806 – 1873) ins Spiel. Er fordert, «dass die einzige Absicht, in der man gegen irgendein Mitglied einer gesitteten Gemeinschaft Gewalt gebrauchen darf, die ist, Unheil für andere zu verhüten».
Der Kontext von Aussagen ist zentral
Dabei ist der Kontext von Aussagen zentral. Nach Oliver Wendell Holmes sollte es nicht erlaubt sein, in einem überfüllten Theater «Feuer» zu schreiben, wenn es nicht wirklich brennt. Und John Stuart Mill schreibt:
«Die Meinung zum Beispiel, dass die Kornhändler Blutsauger der Armen sind oder dass das Eigentum Diebstahl ist, sollte keine Ahndung nach sich ziehen, solange sie einfach durch die Presse in Umlauf gesetzt wird; wohl aber kann sie mit vollem Recht straffällig werden, wenn sie einem aufgeregten Pöbelhaufen vor dem Hause eines Kornhändlers mündlich gepredigt oder in Form eines Plakats unter demselben verbreitet wird.»
Hassreden auf der Grundlage von Verschwörungstheorien haben immer wieder zu unfassbaren Gräueltaten geführt. Das schrecklichste Beispiel im letzten Jahrhundert ist die Vernichtung von Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen Gruppen im Nationalsozialismus. Auch der Stalinismus hat sich auf dieser Basis unübersehbarer Verbrechen schuldig gemacht.
Ein Beispiel aus neuerer Zeit sind die in Ruanda 1994 von den Hutus an den Tutsis (und einigen gemässigten Hutus) verübten Massaker. Hier geschahen in Dörfern, in denen ein populärer Radiosender, in dem wiederholt zum «Endkrieg» und zur «Ausrottung der Kakerlaken» aufgerufen wurde, 65 bis 77% mehr Morde geschahen als in Dörfern, die keinen Empfang hatten.
Wann wird Meinungsfreiheit gefährlich?
Deshalb steht auch im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien die Frage im Raum, welche Meinungsäusserungen gefährlich sind.
Die amerikanische Analystin Susan Benesch hat fünf Kriterien dafür aufgestellt, wann Hassrede zu gefährlicher Rede wird:
- Ein mächtiger Redner mit einem hohen Grad an Einfluss auf die Zuhörer.
- Eine anfällige, leicht zu beeindruckende Zuhörerschaft mit Sorgen und Ängsten, die der Redner kultivieren kann.
- Ein Sprechakt, der eindeutig als Aufruf zu Gewalt verstanden wird.
- Ein der Gewalt zuträglicher gesellschaftlicher oder historischer Kontext.
- Ein Verbreitungsmedium, das für sich genommen einflussreich ist. Beispielsweise weil es die einzige oder die primäre Nachrichtenquelle für das relevante Publikum ist.
Die ersten drei Kriterien bauen auf Aristoteles’ Analyse der drei Dimensionen der Rhetorik auf. Das 3. Und 4. Kriterium fügt Benesch hinzu. Aristoteles hat sich zum Beispiel noch keine Gedanken machen müssen über die weltweiten Folgen eines Youtube-Videos.
Siehe auch zu den Stichworten:
Feindbilder & Verschwörungstheorien
Demagogie & Verschwörungstheorien
Quelle: Timothy Garton Ash, Redefreiheit – Prinzipien für eine vernetzte Welt, Hanser 2016,
(Seiten 14, 135 – 139, 206)
Eine Buchbesprechung und Bezugsmöglichkeit für das sehr informative Buch von Timothy Garton Ash ist über den obigen Link auffindbar.