Verschwörungstheorien verleugnen in der Regel den Zufall. Sie sind ein Versuch der Kontingenzbewältigung. Mit «Kontingenz» ist die prinzipielle Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrungen gemeint.
Der im Verschwörungsdenken vorherrschende Argwohn führt oft zu dem Schluss, dass nichts zufällig geschieht. Zufälligkeiten werden uminterpretiert. Kleine Zufallsereignisse, wie zum Beispiel intakte Fenster im Pentagon nach den Anschlägen vom 11. September, werden neu interpretiert, als seien sie durch die Verschwörung ausgelöst worden. Solche Beobachtungen werden zu einem breiteren, zusammenhängenden Muster verwoben.
Alles, was geschieht, ist das Ergebnis direkten Planens von einigen wenigen Einzelpersonen oder Gruppen.Stalin war beispielsweise überzeugt, die Misserfolge und Pannen seiner forcierten Industrialisierung seien nicht Pannen oder schlechter Planung geschuldet, sondern Sabotage.
Die Flüchtlingskrise ist aus verschwörungstheoretischer Sicht kein Zufall; sie ist nicht die ungewollte Folge von komplexen geopolitischen Verstrickungen, die niemand voll im Griff hat. Sie ist vielmehr das Resultat eines in die Tat umgesetzten „Plans“, hinter dem ein „Feind“ steckt, der Verschwörer. In der Verschwörungstheorie von Grossen Austausch wird als angeblicher Strippenzieher oft George Soros genannt, ein Lieblingsfeind der Verschwörungsgläubigen.
Welchen Nutzen verspricht die Kontingenzbewältigung durch Verschwörungstheorien?
Kontingenzbewältigung bedeutet, mit den Ungewissheiten des Lebens umzugehen. Die klassische Instanz zur Kontingenzbewältigung sind die Religionen. Verschwörungstheorien können diese Funktion aber offensichtlich auch übernehmen.
Verschwörungstheorien reduzieren das unangenehme Gefühl, zufälligen Geschehnissen und Widerfahrnissen ausgeliefert zu sein. Sie bewirken eine Kontingenzbewältigung durch scheinbare Kontingenzreduktion.
Frank Werner schreibt:
«Fügen sich schräge Details zu einer Geschichte, erscheint dies häufig verlockender als die triste Vorstellung, der Zufall regiere die Welt. Offenbar gehört es zum Erbe unserer Evolution, dass wir überall Muster erkennen und Zusammenhänge konstruieren – auch dort, wo es keine gibt. Vielen fällt es leichter, zu akzeptieren, dass höhere Mächte im Hintergrund die Strippen ziehen, als dass niemand die Strippen zieht und Dinge einfach so geschehen. Ist alles eingefädelt, verliert der Zufall seine Macht. Deshalb glauben Menschen an göttliche Fügung, vertrauen der Vorsehung, erwarten das Schicksal. Schon Goethe pries in Wilhelm Meisters Lehrjahre die Weisheit des ‘Schicksals’, das mit dem ‘Zufall nur über ein ‘ungelenkes Organ’ verfüge.
Im Internet-Zeitalter reichen wenige Klicks, um zu erkennen, dass die Vorsehung sich neu gekleidet hat: Sie kommt als Verschwörungstheorie daher.»
Mustererkennung und Mustererfindung
Stefan Klein schreibt zu unserer Neigung, Muster zu suchen und zu finden:
«Da unser Gehirn programmiert ist, nach Mustern zu suchen, lassen uns Beobachtungen, die wir nicht sinnvoll erklären können, keine Ruhe. Allzu leicht setzen wir voraus, wo Ereignisse zusammentreffen, müsse auch ein Zusammenhang bestehen. Aber eine Koinzidenz ist noch keine Kausalität. Manchmal leuchtet uns das ein: Regnet es gerade dann, wenn wir den Schirm vergessen haben, mag zwar mancher zweifeln, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Trotzdem würde wohl niemand annehmen, die dunklen Wolken seien aufgezogen, weil er seinen Regenschirm daheim gelassen hat. Schliesslich brauen sich Regenwolken zusammen, weil ein Tiefdruckgebiet naht, nicht, weil irgendwo ein Schirm im Ständer steht. Oft aber ist der Unterschied zwischen Koinzidenz und Kausalität weniger offensichtlich. Gerade in verwickelten Situationen, bei denen viele Einflüsse eine Rolle spielen, fällt es schwer zu entscheiden, ob die Vorkommnisse zufällig sind oder sich dahinter eine verborgene Gesetzmässigkeit verbirgt.
Über je mehr Informationen wir verfügen, desto mehr Möglichkeiten haben wir, sonderbare Koinzidenzen zu entdecken….
Heute überschütten uns Fernsehen und Internet mit einer solchen Fülle von Meldungen, dass wir zwischen ihnen fast nach Belieben Verbindungen herstellen können.
Wer eine Schwäche für das Obskure hat, kann so mühelos Muster finden und über verborgene Botschaften spekulieren……
Muster und Zusammenhänge zu sehen, wo keine sind, kann beruhigen. Wir fühlen uns dem Schicksal weniger ausgeliefert, gewinnen nach einer erschütternden Erfahrung die Illusion, zu verstehen, was vorgefallen ist. Auch deswegen erfreuen sich Verschwörungstheorien besonderer Beliebtheit, wenn sie sich um Ereignisse drehen, die viele Menschen aufgewühlt haben – die Schüsse auf John F. Kennedy, der 11. September.
Als Basis für Entscheidungen taugen solche Spekulationen allerdings nichts. In harmlosen Fällen bedeutet die irrige Suche nach Mustern Verschwendung von Zeit – oder Geld.»
Kontingenzbewältigung durch Suche von Schuldigen
Michael Hampe schreibt in seinem Buch «Die Macht des Zufalls»:
«Unfälle sind Zufälle mit Opfern, Katastrophen sind Unfälle und Zufälle mit sehr vielen Opfern. Wo die Opfer verletzte und getötete Menschen sind, wird nach Verantwortlichen und Schuldigen gesucht…..Die Tatsache, dass Verantwortliche und Schuldige ausfindig gemacht werden können, erleichtert den Umgang mit dem Leid bei Unfällen und Katastrophen. ….
Dass Seuchen wie Aids und Naturkatastrophen wie Erdbeben bis heute immer wieder als Gottesgerichte, also als Manifestationen des Willens einer ‘höheren Macht’ interpretiert werden, zeigt ebenfalls, dass da, wo Opfer auftreten, auch nach Tätern gesucht wird.
Sowohl die Suche nach einem Täter wie auch die Ausrichtung von Verzweiflung und Wut über ein geschehenes Unglück auf eine Ursache erleichtern offenbar das Leid, vor allem wenn sich die Wut und Verzweiflung auf eine Person richten kann…
Denn in diesem Moment gibt es etwas zu tun: einen Verantwortlichen oder Schuldigen zu suchen, den gefundenen Verantwortlichen und Schuldigen…zur Rechenschaft zu ziehen, zu bestrafen.
Durch die Möglichkeit, etwas zu tun, wird eine Situation der Hilfs- und Machtlosigkeit vermieden. Gegen den Zufall ist hingegen nichts zu machen. Gegen ihn kann nicht prozessiert, er kann nicht bestraft werden. Deshalb werden Situationen, in denen der Zufall offenbar eine Rolle spielt, so lange analysiert, bis Absichten und Fehlleistungen ans Licht kommen. Ihre Identifikation ist Teil einer Kontingenzbewältigung, einer Machtlosigkeitsvertuschung. Wo der Zufall regiert und akzeptiert wird, gibt es dagegen kein Objekt der Wut und des Strafens. Die Betroffenen sind zur Untätigkeit verdammt, sie sind etwas ausgeliefert, gegen das sie sich nicht wenden können. Vielleicht bezeichnet das griechische Wort ‘tyche’ deshalb beides: den Zufall und die Notwendigkeit als etwas in der Wirklichkeit, wo Menschen mit Wünschen, Plänen, Ausgleichs- und Strafbedürfnissen machtlos bleiben. Denn sowenig etwas Notwendiges, etwa ein Naturgesetz, anklagbar ist, ebenso wenig kann eine zufällige Verkettung von Umständen, die Kontingenz, für irgendetwas zur Verantwortung gezogen werden.»
Widerständigkeit des Zufalls als Wirklichkeitsindikator
Wie die Naturgesetze setzt auch der Zufall dem menschlichen Streben und seinen Wünschen und Möglichkeiten Grenzen. Michael Hampe weist darauf hin, dass die Kontingenzelimination nie vollständig sein kann und eventuell zu einer «Entwirklichung des Lebens» führt, «weil nicht nur die Ausnahmslosigkeit der Gesetze, sondern auch die Unberechenbarkeit des Zufalls für Menschen einen Wirklichkeitsindikator in Form von Widerständigkeit darstellt.»
Das spricht sehr dafür, dass wir mit dem Zufall leben lernen, anstatt den hoffnungslosen Versuch zu starten, ihn mit Verschwörungstheorien zu bannen.
Wenn Verschwörungstheorien den Zufall ausschalten wollen, dann liegt dem die Idee zugrunde, dass Geschichte plan- und kontrollierbar ist. Dieses Geschichtsbild ist jedoch sehr unrealistisch (siehe dazu unter: Wodurch zeichnen sich Verschwörungstheorien aus? Merkmale, Charakteristika).
Quellen:
Das Handbuch über Verschwörungsmythen
Frank Werner: Hinter dem Vorhang, in:
ZEIT Geschichte: Vorsicht Verschwörung! Nr. 3/2020 (Seite 17)
Stefan Klein, Alles Zufall?, Rowohlt 2004 (Seite 209 – 211)
Michael Hampe, Die Macht des Zufalls, wjs-Verlag 2007 (Seiten 89ff,203/204)
Siehe auch: