Der Konjunktiv, die Möglichkeitsform, entlastet Verschwörungsgläubige davon, ernsthafte Argumente und Begründungen liefern zu müssen. Alles ist möglich, alles ist vorstellbar. Man muss doch noch fragen dürfen….
Wenn Verschwörungsgläubige im Konjunktiv sprechen, stellen sie nur die Möglichkeit in den Raum, dass es so sein könnte, ohne sich tatsächlich konkret festzulegen. Nur schon dieser angedeutete Verdacht reicht bereits aus, um eine solche Verschwörungserzählung in den Köpfen der Menschen zu verfestigen. Denn das ist das Tückische an solchen Verschwörungstheorien: Sie bleiben konkrete Beweise schuldig, klingen jedoch irgendwie plausibel und lassen der Fantasie Platz. Es handelt sich hier eher um Verschwörungsgerüchte als um ausgebaute Verschwörungstheorien.
Gerade weil Konjunktiv-Verschwörungsgerüchte so viel offenlassen, sind sie anschlussfähig für sehr viele Menschen. Denn möglich und denkbar ist immer sehr vieles. Konfrontiert man Verschwörungsgläubige mit der Behauptung, dass in Untergrundbunkern Kinder gefangen gehalten und gefoltert werden, damit aus ihrem Blut das angebliche Verjüngungsmittel Adrenochrom gewonnen werden kann, bekommt man als Antwort nicht selten: «Könnte ja sein.» Damit kann sich die betreffende Person davor drücken, konkret zu den abstrusen Behauptungen der QAnon-Verschwörungsideologie Stellung zu nehmen. Die Antwort: «Es könnte ja sein», ist einfach eine faule Tour. Die Konjunktiv-Haltung schützt davor, am Ende tatsächlich Dinge auf ihre Fakten hin überprüfen zu müssen. Es genügt, im Vagen zu bleiben. Der Konjunktiv wirkt wie ein Schutzpanzer.
Hier ein paar Beispiele für Verschwörungsgerüchte im Konjunktiv:
☛ Der Chef der iranischen Revolutionsgarden, Hussein Salami, erklärte, das Coronavirus könnte ein „biologischer Angriff der USA“ sein. Ins gleiche Horn stiess Irans mächtigster Mann, der oberste Führer Ajatollah Ali Chamenei: „Es besteht die Eventualität, dass die Verbreitung des Coronavirus im Iran ein biologischer Angriff ist.“ In den USA dagegen verbreitete der republikanischen Senator Tom Cotton «Hypothesen», dass der Corona-Erreger in Wuhan durch einen Fehler oder vielleicht auch bewusst freigesetzt worden sein könnte. Die Corona-Pandemie bietet viele Beispiele für Konjunktiv-Verschwörungsgerüchte, die entsprechend den Feindbildern der jeweiligen Lager locker und schnell in die Welt gesetzt wurden – lange bevor irgendwelche Fakten feststanden.
Siehe: Verschwörungstheorie widerlegt: Corona-Pandemie Erreger (SARS-CoV-2) stammt nicht aus dem Labor
☛ Der verurteilte Sexualstraftäter Jeffrey Epstein war 2019 angeklagt worden, einen Ring zur sexuellen Ausbeutung von Minderjährigen unterhalten zu haben. Während der Vorbereitung auf den Prozess starb er im Gefängnis; gemäss Obduktionsbericht durch Suizid. Kaum war die Meldung vom Tod Epsteins im Netz, spriessten die Konjunktiv-Verschwörungsgerüchte: Könnten nicht die Clintons in den Sexhandelsring involviert gewesen sein? Müssten sie dann nicht ein hohes Interesse am Tod von Epstein haben? Haben sie vielleicht gar die Fäden bei seiner Ermordung im Hintergrund gezogen? Denn gemäss einem zentralen Grundsatz der Verschwörungsgläubigen gilt: Cui bono? Wer davon profitiert, der muss es gewesen sein.
Siehe: Cui bono? – ein Leitmotiv in Verschwörungstheorien
Solche Konjunktiv-Verschwörungsgerüchte können ohne Aufwand lanciert und via Internet sehr rasch verbreitet werden. Sie sind viel schneller als die offiziellen Untersuchungen und zudem spannender. Darüber hinaus könnte der Verhältnismässigkeits-Fehlschluss eine Rolle spielen. Diese Verzerrung geht davon aus, dass «grosse Ereignisse» grosse Ursachen haben müssen. Der Tod einer reichen und berühmten Person, der weltweit Schlagzeilen macht, kann nicht nur ein «gewöhnlicher» Suizid sein, da muss mehr dahinter stecken….
Siehe: Proportionality Bias – Verhältnismässigkeits-Fehlschluss
☛ Verschwörungsgerüchte und Verschwörungstheorien im Konjunktiv kursieren auch in vielfältigen Variationen rund um den Terroranschlag 9/11. «Das Gebäude WTC-7 könnte gesprengt worden sein!» Man braucht dann nur noch einige angebliche Indizien zu liefern und alle Gegenargumente auszuklammern. Schon steht ein einfach gestricktes Verschwörungskonstrukt im Raum.
☛ Ein Meister der Verschwörungsgerüchte in Konjunktiv-Form ist Donald Trump. Als gegen Ende 2020 eine gross angelegte Cyberattacke auf US-amerikanische Regierungsbehörden bekannt wurde, und Ermittlungsbehörden sowie sein Aussenminister Pompeo Russland als für den Angriff verantwortlich machten, erklärte Trump, seiner Ansicht nach könnte es auch China gewesen sein. Er zeigte damit auf seinen aussenpolitischen Lieblingsfeind und nahm seinen „Freund“ Putin ein weiteres Mal aus der Schusslinie. Dann twitterte er ebenfalls faktenfrei, durch die Attacke hätten auch Wahlmaschinen manipuliert werden können, und landete damit punktgenau mitten in seiner Verschwörungstheorie vom Wahlbetrug. Aber alles mit ‚hätte‘ und ‚könnte’….
Fazit:
Man sollte Möglichkeit nicht mit Wahrscheinlichkeit verwechseln. Nur weil etwas möglich ist, ist es noch lange nicht wahrscheinlich so.
Quellen:
Wilde Verschwörungstheorien- Warum das Coronavirus der Politik dienlich sein kann (ZDF)
Männlich, 20, verschwörungsgläubig: Gespräch mit einem, der an die „Corona-Diktatur“ glaubt (Bento)
Nach Cyberangriffen: Weißes Haus blockierte Stellungnahme, die Russland beschuldigt (Der Standard)