Verschwörungstheorien können als Verfahren zur Komplexitätsreduktion aufgefasst werden. Sie funktionieren als Erklärungsversuche, indem ein schwer verständliches, undurchschaubares Geschehen dadurch verständlich gemacht werden soll, dass Schuldige ausfindig gemacht und Sündenböcke benannt werden.
Komplexitätsreduktion ist seit jeher unverzichtbar für Menschen und zahlreiche andere Lebewesen, die zur Wahrnehmung vieler verschiedener Arten von Reizen imstande sind. Nur so lässt sich einer Reizüberflutung vermeiden, die dazu führen würde, dass aus der Umwelt auf das Lebewesen einströmenden Informationen nicht oder nicht mehr sinnvoll verarbeitet werden könnten. Darüber hinaus dient die Komplexitätsreduktion auch der Ermöglichung oder Vereinfachung von Kommunikation.
Lebewesen und soziale Systeme können denselben Lebenssachverhalt auf sehr unterschiedliche Weise in seiner Komplexität reduzieren. Die Komplexitätsreduktion geht mit einer Selektion der tatsächlich in der Umwelt auftretenden und wahrnehmbaren Informationen einher und ist grundsätzlich mit einem Informationsverlust verbunden.
Kulturtechniken zur Komplexitätsreduktion
Menschliche Gesellschaften haben seit frühesten Zeiten bis in die Gegenwart immer auch Kulturtechniken entwickelt, um die Komplexität zu begrenzen, handhabbar zu machen oder abzufangen.
Zur Komplexitätsreduktion tragen zum Beispiel Grenzen, Hierarchien und Rollenzuschreibungen bei. Sie beschränken das Terrain, mit dem man sich befassen muss.
Vertrauen und Arbeitsteilung reduzieren Komplexion, weil man nicht alles selber können und erledigen muss.
Religiöse Ordnungssysteme gehören ebenfalls zu den Kulturtechniken zur Komplexitätsreduktion. Ihrem Wesen nach sind sie totalitär, weil sie den Anspruch haben, nicht einige, sondern potentiell alle menschlichen Fragen zu beantworten. Dadurch errichten sie ein geschlossenes Sinngefüge, das eine einzigartige Orientierung vermittelt.
Eine Komplexitätsreduktion leisten religiöse Systeme, weil sie bei aller Differenzierung übersichtlicher, erhellender und knapper sind als die Fragen, auf die sie reagieren.
Tradition und Gewohnheit reduzieren ebenfalls Komplexität. Sie stellen Erfahrungs- und Wissensbestände zur Verfügung, mit deren Hilfe sich beinahe alle gesellschaftlichen Bereiche wie zum Beispiel Alltag, Handwerk und Technik, Ökonomie, Moral und Recht reproduzieren und stabilisieren lassen.
Komplexität und Komplexitätsreduktion in der Moderne
Während in der Moderne die Komplexität der Gesellschaft stark angestiegen ist, haben viele der traditionellen Kulturtechniken zur Komplexitätsreduktion an Kraft verloren.
Das gilt insbesondere für das Ordnungssystem der Grenzziehung. Die starke Zunahme von Handel und Verkehr perforiert geografische Grenzen. Es entwickelt sich ein Netz wechselseitiger Bezugnahmen, das mit Kolonialismus und Welthandel globale Maßstäbe erreicht.
Die religiösen Ordnungssysteme werden in der Aufklärung ebenso zurückgedrängt wie die Orientierung auf Tradition. Und da Religion sinnstiftend war, gerät mit der Moderne auch die Kategorie ‚Sinn‘ in die Krise.
Als stabiler erweist sich das Ordnungssystem «Hierarchie». Auf Hierarchien, Befehl und Gehorsam können letztlich weder das Militär, noch der Staat, noch die Wirtschaft der Moderne verzichten.
Moderne Gesellschaften konfrontieren Menschen also mit hoher Komplexität. Das kann manche Menschen überfordern. Sekten und Fundamentalismen bieten in solchen Situationen Komplexitätsreduktion an, aber auch Verschwörungstheorien.
Verschwörungstheorien und Komplexitätsreduktion
In der Regel reduzieren Verschwörungstheorien Komplexität, indem sie einfache Gründe für komplizierte Phänomene anbieten. Sie bieten zum Beispiel – mit den Worten des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen gesprochen, „eine Sofort-Entwertung jeder offiziellen Information, mit der man sich nicht genau beschäftigen möchte, bei einer gleichzeitigen Totalsuggestion des eigenen Durchblicks“. Verschwörungstheorien reduzieren Komplexität aber auch durch die Etablierung von Schwarz-Weiss-Denken, Sündenböcken und Gut-Böse-Schemen.
Paradoxerweise reduzieren Verschwörungstheorien zwar oft Komplexität, sie schaffen aber manchmal auch neue Arten von Komplexität. So können sie zum Beispiel statt einfache Ursachen wie zum Beispiel den Zufall zu akzeptieren, komplexe Argumentationsketten erfinden, um verschwörungstheoretische Zusammenhänge in die Welt zu setzen.
Wird ein unerklärliches, verstörendes oder schlimmes Ereignis komplexitätsreduzierend auf das Wirken einer kleinen Gruppe zurückgeführt, dann müssen die Verbindungen dieser Gruppe zu den Ereignissen belegt werden und es muss bewiesen werden, wie genau diese Gruppe andere Gruppen manipuliert und kontrolliert. Das schafft neue Komplexität. Doch bei dieser Komplexität können Verschwörungsgläubige sich vor machen, dass sie sie durchschauen, denn schliesslich haben sie sie ja erfunden.
Das lässt sich an verschiedenen Beispielen zeigen:
☛ Komplexitätsreduktion bietet der Abbé Barruel, der die Französische Revolution als Verschwörung der Freimaurer und Juden deutete, obschon vielfältige Ursachen wie der überschuldete Staatshaushalt, die Reformunfähigkeit des Monarchen und Versorgungsschwierigkeiten infolge von Missernten zu ihren Auslösern gehörten.
Gleichzeitig entstehen dadurch wiederum neue Vielschichtigkeiten und Verwicklungen, denn eine solche Verschwörung setzt die Teilnahme von hunderten oder tausenden von Menschen und deren jahrelanges Schweigen darüber voraus. Diese erfundene Komplexität mag unrealistisch sein, doch vermittelt sie Verschwörungsgläubige als den Erfindern das Gefühl, die Ereignisse im Griff zu haben. Dass Verschwörungen mit derart vielen Mitwissern nicht geheim gehalten werden können, haben schon Niccolò Machiavelli (1469 – 1527) und Umberto Eco (1932 – 2016) beschrieben. Gerade bei umfangreicheren Verschwörungen mit zahlreichen Beteiligten gibt es Umberto Eco zufolge immer jemand, der sie für Geld verrät («Beweis des Schweigens»).
☛ Ein technisch komplexer Vorgang wie die Mondlandung wird auf die scheinbar einfachere Verschwörungsannahme reduziert, es habe sich nur um ein Filmprojekt der amerikanischen Regierung gehandelt.
Damit wird jedoch gleichzeitig eine neue und durchaus hochgradige Komplexität geschaffen: Nur schon die Produktion eines solchen Films hätte seinerzeit mehrere hundert Mitwisser bedurft, die bis heute über diesen Vorgang schweigen müssten. Dazu kommen noch viele tausende NASA-Mitarbeiter, die ebenfalls in die «Mondlandungs-Lüge» eingeweiht gewesen sein müssten.
☛ Die Annahme, dass Lee Harvey Oswald bei der Ermordung von John F. Kennedy als Einzeltäter gehandelt hat, ist unkompliziert, was die Beweisführung betrifft. Geht man aber davon aus, dass Kennedy Opfer einer grossangelegten Verschwörung wurde, wird es sehr viel komplexer. Weil man dann nachvollziehbar belegen muss, welche Gruppen im Hintergrund die Strippen gezogen haben und wie das geschah.
☛ Die rechtsextreme Verschwörungstheorie vom «Grossen Austausch» verbreitet die hochgradig irreale Vorstellung, dass Migration durch „Eliten“ planmässig gesteuert wird. Dadurch soll die einheimische Bevölkerung durch Migrantinnen und Migranten ersetzt werden. Oft wird als Strippenzieher hinter diesem Vorgang der Investor und Philanthrop George Soros genannte, ein Allzweck-Sündenbock und Lieblings-Feindbild der Rechten.
Dadurch werden die komplexen politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Ursachen der Migration auf ein simples verschwörungstheoretisches Narrativ reduziert. Aber auch hier folgen daraus neue Komplexitäten. Schliesslich ist es nicht einfach zu erklären, wie eine Einzelperson – auch wenn es ein Milliardär ist – diese kniffligen Prozesse alle global und über Jahrzehnte im Griff haben und steuern kann.
Quellen:
Vortragsskript von Hartmut Winkler (Universität Paderborn): Kulturtechniken zur Reduzierung von Komplexität, 16. 4. 2013 (nicht mehr online).
Ingo Grabowsky, Ketzer, Chemtrails und Corona, HEEL Verlag 2020.
Michael Butter, Nichts ist, wie es scheint, Suhrkamp 2018.
Verrenkungen der Verschwörungsideologen: Der schwere Irrtum der einfachen Wahrheit (Tagesspiegel)
Ausserdem:
Neben der Komplexitätsreduktion dienen Verschwörungstheorien auch zur Kontingenzbewältigung / Zufalls-Verleugnung.