Die Verschwörungstheorien rund um den Kartoffelkäfer sind ein Beispiel für politische Propaganda. Sie zeigen ausserdem, dass das auslösende Objekt oder Ereignis für die Entstehung von Verschwörungstheorien oft gar nicht relevant ist. Der Kartoffelkäfer ist wie eine weisse Leinwand, auf welche Feindbilder projiziert werden können. Ein Aufhänger, ein «Fänger» für Feindbilder. Darum herum wird dann eine Verschwörungsgeschichte erzählt. Wie andere Objekte oder Ereignisse auch, kann dieser Käfer mit unterschiedlichen Feindbildern verbunden werden. Die bekannteste Verschwörungsgeschichte rund um den Kartoffelkäfer stammt aus der DDR. Aber der Reihe nach.
Der schöne Kartoffelkäfer…
Der Kartoffelkäfer (Leptinotarsa decemlineata) ist sehr auffällig – gelb mit zehn dunklen Längsstreifen. Er stammt ursprünglich aus Zentralmexiko. Weil im US-Bundesstaat Colorado grosse Ansammlungen beobachtet wurden, bekam er den Namen Colorado-Käfer. Erste Sichtungen in Europa erfolgten 1877 in den Hafenanlagen von Liverpool und Rotterdam. Danach verbreitete er sich auf dem europäischen Kontinent. 1937 trat er erstmals in der Schweiz auf. Der Käfer und seine Larven ernähren sich von Teilen der Kartoffelpflanze. Sie können innert kurzer Zeit ganze Kartoffelfelder kahlfressen.
Schon während des Ersten Weltkriegs verbreitete man in Deutschland, dass Frankreich beabsichtige, mit der gezielten Vermehrung des Kartoffelkäfers die Lebensmittelversorgung im Deutschen Reich zu gefährden.
Im Verlaufe des Zweiten Weltkriegs behaupteten sowohl das NS-Regime als auch die Alliierten, Kartoffelkäfer seien von Flugzeugen über dem jeweiligen Feindgebiet abgeworfen worden. Dafür gibt es keine Belege. Hingegen wurden Kartoffelkäfer nachweislich 1943 von der deutschen Wehrmacht gezüchtet und über der Pfalz (bei Speyer) abgeworfen, um die Eignung als biologische Waffe zu testen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg vermehrten sich Kartoffelkäfer in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands sprunghaft, bis um 1950 beinahe die Hälfte der landwirtschaftlichen Anbaufläche befallen war.
Der Nachkriegs-Alltag der jungen DDR war durch Mangel geprägt. Lebensmittel waren rationiert und die Regierung besass keine Kartoffelreserve.
Kartoffelkäfer-Verschwörungstheorie lenkt von Versagen ab
Die Führung der DDR war nicht in der Lage, der Katastrophe Herr zu werden. Sie nutzte die Plage jedoch zu Propaganda-Zwecken im Kalten Krieg. Sie behauptete, dass eigens in den USA gezüchtete Kartoffelkäfer durch amerikanische Flugzeuge gezielt als biologische Waffe zur Sabotage der sozialistischen Landwirtschaft abgeworfen worden seien.
Das Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), «Neues Deutschland», titelte am 16. Juni 1950: Außerordentliche Kommission stellt fest: USA-Flugzeuge warfen große Mengen Kartoffelkäfer ab.
Ab 1950 wurde auf Plakaten und in vielen Medienberichten eine Kampagne gegen die „Amikäfer“ oder „Colorado-Käfer“ lanciert, die „Saboteure in amerikanischen Diensten“ genannt wurden.
Was die sozialistische Ernte schädigte, das musste vom Klassenfeind stammen. In der Presse sprach man häufig vom Ami-Käfer. Im DDR Fernsehen hieß es beispielsweise: „Eine ausländische Pressedelegation besuchte auf ihrer Rundfahrt durch die Deutsche Demokratische Republik den Ort Schönfels im sächsischen Landkreis Zwickau. Die Journalisten überzeugten sich von den Folgen des Kartoffelkäferabwurfs durch USA Flugzeuge.“
Eine Nachfrage von MDR AKTUELL beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR ergab, dass zwar viele solche Abwürfe gesehen haben wollten und immer wieder entsprechende Hinweise bei der Staatssicherheit eingingen – mehr als Vermutungen waren das jedoch nie. Wenn nach einem Flugzeugüberflug Kartoffelkäfer entdeckt wurden, war das damals Beweis genug.
Diese Legende fand sogar in ein Gedicht Bertolt Brechts Eingang:
Für den Frieden
Die Amiflieger fliegen
silbrig im Himmelszelt
Kartoffelkäfer liegen
in deutschem Feld.
Ähnliche propagandistische Kampagnen soll es auch in der Volksrepublik Polen gegeben haben.
Weder die Stasi-Archive noch die Archive der US-amerikanischen Geheimdienste enthalten Hinweise, dass ein großangelegter Bio-Angriff auf die Kartoffeln im Osten stattgefunden hat. Es spricht alles für eine ganz natürliche Kartoffelkäfer-Plage.
Quellen:
Beitrag «Kartoffelkäfer» auf Wikipedia
Vor 70 Jahren: Wie die DDR gegen den imperialistischen Kartoffelkäfer kämpfte (mdr)
FAKTENCHECK: Der Kartoffelkäfer-Krieg (mdr)
☛ Die Kartoffelkäfer-Verschwörungstheorie ist ein gutes Beispiel für einen häufigen Fehlschluss:
Zwei voneinander unabhängige Ereignisse – ein Flugzeug fliegt über das Feld, im Feld tauchen Kartoffelkäfer auf – werden in einen ursächlichen Zusammenhang gestellt. Die Käfer sind da, weil die Flugzeuge sie abgeworfen haben.
Dieser Fehlschluss heisst Post-hoc-ergo-propter-hoc-Fehlschluss. Er zeigt sich im Alltag häufig. Zum Beispiel wenn jemand krank ist, ein Medikament nimmt, gesund wird und dann automatisch davon ausgeht, dass das Medikament für die Besserung verantwortlich ist (es könnte auch der natürliche Verlauf sein). Siehe dazu:
Der “Post-hoc-ergo-propter-hoc-Fehlschluss” als häufige Irrtumsquelle
☛ Die Kartoffelkäfer-Verschwörungstheorie ist auch ein gutes Beispiel für die politische Instrumentalisierung von Verschwörungstheorien.
Siehe dazu:
Welche politischen Interessen stehen hinter Verschwörungstheorien?