Antisemitismus hat weitreichende historische Wurzeln. Mehr dazu hier: Antisemitismus und Verschwörungstheorien. Im 20. Jahrhundert kam eine spezielle Variante des Antisemitismus auf, die als «jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung» im Nationalsozialismus ihren Höhepunkt fand und die Basis vorbereitete für den Holocaust.
Wie kam es dazu?
Ab den 1860er-Jahren erlangten Jüdinnen und Juden in Europa beinahe rechtliche Gleichstellung. Sie konnten ihre Gettos verlassen und sich mit der restlichen europäischen Bevölkerung mischen.
Innert kurzer Zeit legten sie den alten Ruf von Armut und Rückständigkeit ab und betätigten sich erfolgreich in neuzeitlichen Berufen, die ihnen zuvor nicht zugänglich waren. Insbesondere Angehörige der politischen Rechten sahen diese Entwicklung der zuvor als isoliert und schwach wahrgenommenen Juden mit Sorge und witterten einen ersten Schritt auf dem Weg zu jüdischer Herrschaft.
Bereits nach kurzer Zeit, spätestens jedoch nach dem Auftauchen der erfundenen «Protokolle der Weisen von Zion», galten Jüdinnen und Juden als die gefährlichsten Verschwörer und Manipulierer mit großem Einfluss auf Freimaurer, Imperialisten oder Totalitaristen.
Viele andere antisemitische Publikationen verstärkten den antisemitischen Trend, indem sie immer wiederkehrende Inhalte antisemitischer Verschwörungstheorien und Ressentiments unter die Leute brachten.
Insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg nahmen die Schuldzuweisungen gegen Juden stark zu. Antisemiten und konservative Militärs wie Erich Ludendorff erfanden die Dolchstosslegende, wonach Juden und Linke dem kämpfenden Heer in den Rücken gefallen und darum für die Niederlage verantwortlich seien.
Nach dem Beginn der bolschewistischen Revolution in Russland (1917) verstärkte sich die antisemitische Wirkung der «Protokolle». Ihre Glaubwürdigkeit schien durch die revolutionären Ereignisse bestätigt zu werden, als deren Drahtzieher Juden wie Kamenev, Radek, Sinovjev und insbesondere Leo Trotzki sein sollten. Ausgeblendet wurde dabei, dass diese Führungsfiguren gar keine praktizierenden Juden waren.
Nichtsdestotrotz wurde die bolschewistische Revolution als Resultat einer von langer Hand geplanten «jüdischen Weltverschwörung» gedeutet und die «Protokolle» wie eine Selffulfilling Prophecy aufgefasst.
Unterstellte „Wesensgemeinschaft“ zwischen Judentum und Bolschewismus
Die Tatsache, dass führende Bolschewiki jüdischer Herkunft waren, nutzten ihre politischen Gegner, um eine «Wesensgemeinschaft» zwischen Judentum und Bolschewismus zu behaupten und die Bevölkerung gegen die Revolutionäre zu mobilisieren. Im russischen Bürgerkrieg setzten die gegenrevolutionären «weissen» Truppen entsprechende Aufrufe ein und verbreiteten die «Protokolle» in grossen Auflagen.
Über russische Emigranten, die das Bürgerkriegsland in grosser Zahl verliessen, fand die Vorstellung, der Bolschewismus sei jüdischen Ursprungs, weite Verbreitung in Westeuropa und den USA.
Am nachhaltigsten und einschneidendsten entfaltete sich die Vorstellung vom «jüdischen Bolschewismus» allerdings in Deutschland. Seit der Novemberrevolution der Jahreswende 1918/1919 wurden Stadt und Land von Broschüren und Flugblättern geradezu überschwemmt, in denen die Juden als die eigentlichen Drahtzieher der Revolution denunziert wurden. Die Revolution in Russland und die (gescheiterte) Revolution in Deutschland wurden als Schritte hin zu einer jüdischen Vorherrschaft in der Welt dargestellt.
In dieser Zeit entstand das ideologische Konstrukt des «Judobolschewismus», genannt auch die «jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung».
In diesem aufgeheizten Klima begann der unbekannte Weltkriegsgefreite Adolf Hitler seine politische Karriere und sog wie ein Schwamm die grassierenden judenfeindlichen Stimmungen und Parolen auf. In seinen frühen Reden war der Antisemitismus noch nicht mit dem Antibolschewismus verbunden. Im Zentrum stand zu dieser Zeit die Polemik gegen die «Novemberverbrecher» – Juden und Linke – denen Hitler die Schuld an der Kriegsniederlage und an der Revolution gab, und gegen den «Schandfrieden» von Versailles, den er auf verderbliche Einflüsse des internationalen jüdischen Finanzkapitals zurückführte, das Deutschland «bis auf das Hemd» ausplündern wolle.
Es dauerte allerdings nicht lange, bis der Agitator auch das Feindbild des «jüdischen Bolschewismus» in seinen antisemitischen Hasskomplex einbaute. Massgeblichen Einfluss übte in dieser Hinsicht Alfred Rosenberg auf ihn aus, der über die Jahre im Nationalsozialismus zum führenden Ideologen aufstieg.
Alfred Rosenberg – Ideologe der NSDAP
Der 1893 in Reval, dem heutigen Tallinn, geborene Alfred Rosenberg erlebte 1917 noch die Anfänge der Russischen Revolution in Moskau. Er zog im November 2018 nach München und publizierte in den folgenden Jahren zahlreiche Schriften, in denen er die Umwälzungen in Russland als ein von Juden planvoll inszeniertes Zerstörungswerk brandmarkte. Die Reden Hitlers zeigen, dass er vom Sommer 1920 an die Verhältnisse im revolutionären Russland immer stärker durch die Brille Rosenbergs sah und die «jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung» als fixe Idee damit verknüpfte. In «Mein Kampf», seiner in der Landsberger Festungshaft 1924 geschriebenen Bekenntnis- und Hetzschrift, fügte Hitler zu einem grösseren Bild zusammen, was er zuvor in unzähligen Reden verkündet hatte. Der Kampf gegen die «jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung» bekam nun beinahe religiöse Züge und wurde zu einer quasi endzeitlichen Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse aufgebauscht. Die Fantasie vom Sieg über die «jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung» war dabei mit Heils- und Erlösungserwartungen verknüpft.
Nach dem überraschenden Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes («Hitler-Stalin-Pakt») am 24. August 1939 klang allerdings die öffentliche antibolschewistische Rhetorik ab. Stattdessen war von der «Plutokratie» die Rede. Mit dem Kampfbegriff «Plutokratie» unterstellte die NS-Propaganda die Herrschaft des grossen Geldes in den demokratischen Staaten des Westens. Diese Vorstellung hatte Hitler mit seinen Hasstiraden gegen das internationale «jüdische Finanzkapital» schon früh bewirtschaftet. Erst mit dem Start des «Unternehmens Barbarossa» – dem Einmarsch deutscher Truppen in die Sowjetunion – im Juni 1941 wurde das Feindbild des «jüdischen Bolschewismus» reaktiviert.
Der «Kampf gegen die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung» diente zusammen mit der «Eroberung von Lebensraum im Osten» als Begründung für den Angriff auf die Sowjetunion. Diese ideologischen Komponenten trugen dazu bei, dass der weltanschaulich geprägte Krieg von grosser Grausamkeit begleitet war. Parallel zum Feldzug lief der Holocaust mit der Erschiessung von Jüdinnen und Juden durch sogenannte «Einsatzgruppen». So hat die umfassende Verschwörungstheorie von der «jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung» in eine der grössten Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt.
Die «jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung» als Superverschwörungstheorie
Typologisch haben wir es hier mit einer «Superverschwörungstheorie» zu tun. «Ereignisverschwörungstheorien» drehen sich um ein bestimmtes, einigermassen klar eingrenzbares Ereignis, das sie als Resultat einer Verschwörung interpretieren (z. B. das Kennedy-Attentat, 9/11, die Mondlandungs-«Lüge»). «Systemverschwörungstheorien» definieren bestimmte Verschwörer und unterstellen ihnen, für eine ganze Reihe von Ereignissen verantwortlich zu sein, um ihre dunklen Ziele zu erreichen, Macht und Geld zu sichern. Die angeblichen Verschwörer agieren dabei nicht selten global und über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte. Solche Verschwörungstheorien ranken sich um Gruppen wie die Kommunisten, die Illuminaten, die Freimaurer, die Juden oder die CIA. Zu den Superverschwörungstheorien schreibt Michael Butter in seinem Buch «Nicht ist, wie es scheint»:
«Superverschwörungstheorien…sind Konglomerate aus Ereignis- und Systemverschwörungstheorien. Die nationalsozialistische Theorie von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung ist eine Superverschwörungstheorie, weil in ihr zwei Systemverschwörungstheorien, diejenige von der jüdischen und die von der kommunistischen Verschwörung, verschmelzen.»
Die „jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“ ist eine Absurde Ideologie
Die «jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung» als Verschwörungstheorie ist nicht ohne eine gewisse Widersprüchlichkeit. Den Jüdinnen und Juden wird vorgeworfen, sowohl hinter dem Kapitalismus als auch hinter dem Kommunismus zu stecken. Doch welchen Nutzen sollte es für die Juden haben, die Fäden sowohl im Wirtschaftssystem des Kapitalismus zu ziehen, um sich zu bereichern, und dieses gleichzeitig durch die Kommunistische Internationale zu bekämpfen?
Und wenn «den Juden» unterstellt wird, sie hätten die russische Revolution gefördert, dann sollte auch erwähnt werden, wer das tatsächlich getan hat, nämlich Deutschland. Die deutsche Regierung erlaubte 1917 Revolutionären wie Lenin, Sinowjew, Radek sowie weiteren rund 400 russischen Emigranten die Einreise nach Russland. Durch Quellen gesichert ist auch, dass die deutsche Regierung in den Kriegsjahren Mittel für unterschiedlichste revolutionäre und nationalistische Gruppen in Osteuropa zur Verfügung stellte. Umstritten ist bis heute allerdings, in welchem Umfang die Bolschewiki davon profitierten.
Eine «jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung» hätte vorausgesetzt, dass die Jüdinnen und Juden entsprechend organisiert waren. Der Holocaust hat dramatisch gezeigt, dass das nicht der Fall war. Das hat nach dem Krieg sogar der frühere Höhere SS- und Polizeiführer in Zentralrussland, Erich von dem Bach-Zelewski, ein gnadenloser Massenmörder, eingestanden:
«Im Gegensatz zur Auffassung der Nationalsozialisten, wonach die Juden eine hoch organisierte Gruppe waren, lautete die schreckliche Wahrheit, dass sie keine wie auch immer geartete Organisation besassen…Sie wussten nicht im entferntesten, was zu tun sei; sie hatten keinerlei Weisungen oder Losungen, nach denen sie hätten handeln können. Dies…beweist die Unwahrheit der Behauptung, die Juden würden sich verschwören, um die Welt zu beherrschen, und seien bestens organisiert. In Wahrheit besassen sie überhaupt keine eigene Organisation, nicht einmal einen Informationsdienst. Hätten sie über irgendeine Organisation verfügt, so hätten diese Menschen millionenfach gerettet werden können; stattdessen aber wurden sie vollkommen überrascht. Nie zuvor ist ein Volk derart ahnungslos in sein Verderben gegangen. Auf nichts war man vorbereitet. Auf absolut gar nichts.» (zitiert nach Evans 2020, Seite 59)
Der britische Historiker Norman Cohn hat darauf hingewiesen, dass der Mythos von einer jüdischen Weltverschwörung «seine kohärenteste und tödlichste Gestalt gerade zu dem Zeitpunkt, als die Juden in Wirklichkeit stärker gespalten waren als jemals zuvor – zwischen orthodoxen und reformierten, praktizierenden und gleichgültigen, gläubigen und agnostischen, assimilationistischen und zionistischen», ganz zu schweigen von den Unterschieden von Klasse, Politik und nationaler Zugehörigkeit. (zit. nach Evans 2020, Seite 59)
Quellen:
☛ «Freimauertum, Zionismus und konspirative Eliten: Die Wirkung von Verschwörungstheorien auf demokratische Einstellungen», Masterarbeit von Marlene Schönberger (Ludwig-Maximilians-Universität München, Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft, 2017).
☛ «Ausnahmslos Hebräer», von Volker Ullrich, Zeit Geschichte Nr. 3/2020.
☛ «Nichts ist, wie es scheint – Über Verschwörungstheorien» (Suhrkamp 2018).
☛ «Agenten des Bösen – Verschwörungstheorien von Luther bis heute», Wolfgang Wippermann, be.bra Verlag 2007.
☛ «Verschwörungstheorien – früher und heute», Stiftung Kloster Dahlheim 2019.
☛ Beitrag zu «Wladimir Iljitsch Lenin – Erster Weltkrieg und Unterstützung durch das Deutsche Reich» auf Wikipedia.
☛ «Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien», von Richard J. Evans, DVA 2020
Siehe auch: