Früher waren Verschwörungstheorien umfangreiche Konstrukte. Sobald man von ihnen überzeugt war, übernahm man ihre Grundannahmen weitgehend. Inzwischen gibt es jedoch neuartige Typen von Verschwörungstheorien, die eher wie ein Baukasten daherkommen. Jeder und jede bekommt dabei die Möglichkeit, selber an der Weiterentwicklung mit zu basteln. Durch diese Mitbeteiligung bekommt die Verschwörungstheorie grössere Überzeugungskraft. Dafür mitverantwortlich ist der sogenannte IKEA-Effekt.
Was ist der IKEA-Effekt?
Die Verhaltensökonomik bezeichnet als IKEA-Effekt den Zuwachs an Wertschätzung, der selbst entworfenen oder zumindest selbst zusammengebauten Gegenständen im Vergleich zu fertig gekauften Massenprodukten entgegengebracht wird. Die Benennung nach dem Möbelhersteller IKEA und dessen durch den Kunden zu montierenden Produkten hat der Wirtschaftswissenschaftler Michael Norton im Jahr 2009 geprägt. Quantitativ erreicht die erhöhte Wertschätzung durch die selbst durchgeführte Montage eines Massenartikels beinahe die Wertschätzung für ein individuell durch einen Handwerker gefertigtes Einzelstück. Wer ein IKEA-Regal selbst zusammengebaut hat, findet dieses gegenüber einem «Fremdprodukt» vielleicht sogar besser, selbst wenn es krumm und schief dasteht.
Obwohl sie die Möbelmarke IKEA nicht kennen und noch nie ein solches Regal zusammengebaut haben, funktionieren sogar Mäuse nach dem IKEA-Efffekt. Bietet man ihnen zwei Flüssigkeiten mit unterschiedlichen Geschmacksrichtungen an, bevorzugen sie jene Variante, für die sie härter arbeiten mussten.
Die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Tali Sharot geht davon aus, dass der Wert der Kontrolle entscheidend ist, die mit dem eigenhändigen Zusammenbau einhergeht. Die erhöhte Kontrolle macht das Endprodukt für uns wertvoller. Tali Sharot hat zusammen mit Michael Norton in weiteren Verlauf der Forschungen untersucht, ob es auch ausreicht zu glauben man habe den Gegenstand selbst gemacht, damit er in einem besonderen Glanz erstrahlt. Als Fazit dieser Studien schreibt sie:
«Das eigentlich Entscheidende ist die Wahrnehmung, nicht die objektive Wirklichkeit. Damit Menschen Dinge in höherem Masse wertschätzen, müssen wir ihnen das Gefühl geben, dass sie bei deren Gestaltung in irgendeiner Weise mit Hand angelegt haben.»
Genau dieses Phänomen scheint zum Erfolg der neuartigen Baukasten-Verschwörungstheorien beizutragen – basierend auf dem IKEA-Effekt.
IKEA-Effekt bei Verschwörungstheorien – wie zeigt sich das?
Typisch für Verschwörungstheorien vom «IKEA-Typ» ist, dass sie unfertige Bruchstücke anbieten und vage Aussagen in den Raum stellen. Dann kann jeder und jede an irgendeiner Stelle daran andocken und weiterspinnen. So kann das Konstrukt schliesslich als eigenes empfunden werden.
Hier dazu ein Beispiele für den IKEA-Effekt im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien:
☛ QAnon ist das Paradebeispiel für eine Verschwörungstheorie mit IKEA-Effekt. Seit 2017 erschienen im Internet etwa 5000 rätselhafte Botschaften, sogenannte Q-Drops. Die Anhängerinnen und Anhänger des Kultes versuchen in endlosen Interpretationen, diesen mysteriösen Häppchen eine Bedeutung zu geben. Damit bauen sie am QAnon-Konstrukt mit. Angeblich sollen die Q-Drops von einem Insider mit Zugang zu Geheiminformation stammen (Hinweise aus Sprachuntersuchungen sprechen allerdings für zwei Urheber).
Die QAnon-Geschichte ist sehr anpassungsfähig und wird auch weitergesponnen, seit Q keine Drops mehr absondert. Nachdem Donald Trump die Wahl 2020 verloren hatte, übernahm die QAnon-Szene die Verschwörungstheorie ihres Idols und glaubte an den angeblichen Wahlbetrug. Dann fieberten die QAnons dem 6. Januar entgegen und glaubten an den grossen Umsturz zugunsten Trumps. Als diese Erwartungen nicht eintrafen und das Wahlresultat vom Kongress bestätigt wurde, verlagerten sich die Hoffnungen auf den Tag der Inauguration am 20. Januar. Das Militär würde eingreifen und Joe Biden mit allen Demokraten vor laufenden Kameras verhaften, wonach Trump triumphal zurückkehren würde. Nachdem auch dieser Tag zum Flop wurde verlagerten die Fans ihre Spekulationen auf den 4. März, weil bis 1933 die Inauguration des US-Präsidenten an diesem Tag stattfand. Fragt sich, wie lange das so weitergeht. QAnon scheint in einer Endlosschlaufe zu stecken.
☛ Donald Trump, bekanntlich die Erlöserfigur im QAnon-Kult, ist ein Meister der verschwörungstheoretischen Anspielungen. Einer seiner Sprüche im Wahlkampf 2016 war «there is something going on». Auch beruft er sich ständig auf das, ‘was er gehört’ oder ‘was er ganz anders gehört’ habe.
In seiner strategischen Vagheit kommt das einer Aufforderung an sein Publikum gleich, selbst tätig zu werden und eigene Erzählungen zu entwickeln, was da genau im Geheimen vor sich gehen könnte. Er liefert einen Imaginationsraum, in dem sein Publikum selbst aktiv werden und ihn mit passenden Geschichten füllen kann, die weitererzählt und fortlaufend ergänzt und modifiziert werden.
Ähnlich wirkt eine Aussage wie: «Hillary Clinton ist schwer krank, und das wird vor der Öffentlichkeit geheim gehalten». Schwärme von Trump-Fans beteiligten sich an Spekulationen, was los sein könnte, und deuteten jedes mögliche Anzeichen.
Produzieren und konsumieren die Erzählung: prosumer
Die Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess schreibt zu solchen Vorgängen in ihrem Buch «Halbwahrheiten – zur Manipulation von Wirklichkeit»:
«Im Kontext des Web 2.0 ist für diese Dynamik der Begriff des prosumer geprägt worden, der gleichzeitig Konsument:in wie Produzent:in von Informationen ist. Folgenreich ist sie vor allem für die Frage nach der Autorschaft. Denn einerseits ist die Produktion von Halbwahrheiten in den sozialen Netzwerken von der Lust getragen, Autor:in zu sein und als solche:r eine Wirksamkeit in der Öffentlichkeit zu entfalten. Andererseits weichen die Produzentinnen und Produzenten von Halbwahrheiten jedoch der Verantwortung aus, die mit Autorschaft normalerweise verbunden ist….
Die prosumer der Halbwahrheiten verstecken sich hinter einem Kollektiv, in dessen Produktionsprozess sie sich eingliedern.»
Auch bei gemeinsam weitergesponnenen Verschwörungstheorien verschwindet die Autorschaft. Gleichzeitig kann sich dadurch die Identifizierung mit dem Konstrukt verstärken.
Quellen:
Die Meinung der Anderen, Tali Sharot, Siedler Verlag 2017.
Halbwahrheiten – zur Manipulation der Wirklichkeit, Nicola Gess, Matthes & Seitz Verlag 2021.
Beitrag zum Thema «IKEA-Effekt» auf Wikipedia.