Zwischen Verschwörungstheorien und dem Phänomen, das sich unter dem Begriff «Identitätspolitik» seit einiger Zeit ausbreitet, gibt es eine Reihe von erstaunlichen Gemeinsamkeiten. Diese Gemeinsamkeiten sind gesellschaftlich sehr bedeutsam und sollen hier thematisiert werden, ohne dass die Unterschiede unter den Tisch fallen. Dazu müssen die Merkmale der Identitätspolitik und ihre Wurzeln klarer skizziert werden.
In der Öffentlichkeit zeigen sich identitätspolitische Ansätze hauptsächlich anhand von Diskussionen über Gendersterne oder geschlechtsneutrale Toiletten. Dabei bleiben die Auseinandersetzungen allerdings oft an der Oberfläche. Die Grundlagen, auf denen diese identitätspolitischen Ideen stehen, kommen dabei kaum zur Sprache.
Der Begriff «Identitätspolitik» bezeichnet das Bestreben, eine auf Minderheiten ausgerichtete Politik zu betreiben, die sich auf «Rasse»/Hautfarbe, Geschlecht und Gender bezieht. Angestrebt werden höhere Anerkennung der jeweiligen spezifischen Gruppen, die Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Position und die Stärkung ihres Einflusses.
Nun ist politisches Engagement gegen Diskriminierung aufgrund von «Rasse»/Hautfarbe, Geschlecht, Religion oder sexueller Orientierung grundsätzlich sehr zu begrüssen. Dieses Engagement kann allerdings auf sehr unterschiedlichen Grundlagen stehen. Ein universalistischer Ansatz wird dafür kämpfen, dass alle Menschen gleiche Rechte haben. Das war beispielsweise der Traum des Bürgerrechtlers Martin Luther King (1929 – 1968). Er strebte danach, dass die Hautfarbe keine Rolle mehr spielt («Farbenblindheit»).
In seiner berühmten «I have a dream»-Rede am 28. August 1963 sagte King:
«Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden.»
Die Identitätspolitik pflegt einen Ansatz, der sich grundsätzlich von diesem Universalismus unterscheidet. Hier werden die Mitglieder einer diskriminierten Gruppe in einem ersten Schritt mittels kultureller, ethnischer, sozialer oder sexueller Merkmale identifiziert. Menschen, die diese Eigenschaften besitzen, werden zu der Gruppe gezählt, die dabei oft als homogen betrachtet wird. Menschen, denen diese Eigenschaften fehlen, werden dagegen ausgeschlossen. Tendenziell werden dabei Menschen nicht in erster Linie als Individuen betrachtet, deren Identität sich aus unterschiedlichen und veränderlichen Bestandteilen zusammensetzen kann, sondern als Träger einer eindeutigen kollektiven Opfer- oder Schuldidentität. Diejenigen, deren Gruppe in der Vergangenheit unter Ausgrenzungen litt, werden einem Opferkollektiv zugeordnet, das berechtigt ist, von den Trägern der Schuldidentität Läuterungsbekundungen zu verlangen.
Dem pauschalisierten Opferkollektiv wird also ein ebenso pauschalisiertes Täterkollektiv gegenübergestellt, das eindeutig Schuld haben soll an den Ungerechtigkeiten und Demütigungen, welche das Opferkollektiv erlitten hat. Damit ist die Grundlage gelegt für ein identitätspolitisch konstruiertes Opfer-Täter-Narrativ und damit verbundene Freund-Feind-Schemata. Das Täterkollektiv spaltet sich in der Folge in «reumütige» und ignorante Täter. Aus ihm treten «reumütige» Täter hervor, die das Opferkollektiv als Kollektiv anerkennen und damit die Verantwortung für das vom Opferkollektiv beklagte Unrecht bereitwillig übernehmen. Sie übernehmen damit eine identitätspolitische Stellvertreterrolle für das restliche «Täterkollektiv» und erkennen für sich selbst die kollektivistisch konstruierte Schuldidentität individuell an.
Standpunkttheorie in der Identitätspolitik
Innerhalb der Identitätspolitik gibt es eine spezielle Standpunkttheorie. Danach haben Betroffene aus marginalisierten Gruppen einen privilegierten Blick auf ihre Situation. Das stimmt natürlich in mancherlei Hinsicht. Von Rassismus oder Sexismus betroffene Menschen machen Erfahrungen, die andere Menschen in genau dieser Art nicht erleben. Deshalb sollten die Erfahrungen Betroffener angehört und ernstgenommen werden. Problematisch wird die Standpunkttheorie, wenn sie absolut gesetzt wird, und Perspektiven Nicht-Betroffener komplett ausgeklammert werden. Denn manchmal sieht man mit etwas Abstand Aspekte, die den direkt Involvierten entgehen. Wenn allein der Standpunkt entscheidet, ob ein Argument Gültigkeit hat, und die Qualität des Arguments für irrelevant gehalten wird, entwickelt sich der Diskurs in eine hoch fragwürdige Richtung.
Dazu kommt noch, dass Betroffenendiskurse oft in einer Sackgasse landen, weil es «die» Betroffenen nicht gibt. Betroffene unterscheiden sich in ihren Ansichten, sie haben Unterschiedliches erlebt und ziehen daraus unterschiedliche Schlüsse. Jede einzelne betroffene Person mag ein Wissen haben, das andere nicht haben, und das es wert ist, gehört und geteilt zu werden. Aber niemand von den Betroffenen hat eine absolute Expertise oder ein Mandat, um eine Debatte ein für alle Mal zu entscheiden.
Thomas Zoglauer schreibt in «Konstruierte Wahrheiten»:
«In der Identitätspolitik spielt die Gruppenzugehörigkeit eine entscheidende Rolle. Nur den Mitgliedern der eigenen sozialen Gruppe wird eine objektive Sicht auf die Wirklichkeit zugetraut. Die Standpunkttheorie vertritt die Auffassung, dass bestimmte soziale Standpunkte und ihre Sichtweisen, vorzugsweise diejenigen einer unterdrückten sozialen Minderheit, epistemisch privilegiert seien…..Andere Sichtweisen werden als biased oder interessegeleitet zurückgewiesen oder es wird ihnen ein falsches Bewusstsein unterstellt. Der Wahrheitsgehalt einer Aussage hängt demzufolge nicht nur vom Inhalt der Aussage, sondern auch davon ab, wer etwas sagt. Wenn aber die Gruppenzugehörigkeit bestimmt, was wahr und was falsch ist, dann gibt es keine universelle, für alle verbindlichen Wahrheiten mehr, vielmehr wird Wahrheit zu einer Frage der Gruppenloyalität.»
Wurzeln der Identitätspolitik im universitären Milieu
Seit Jahrzehnten lässt sich beobachten, dass viele Trends und Entwicklungen in der Wissenschaft ihre Anfänge in den USA hatten. Das betrifft insbesondere die Sozial- und Geisteswissenschaften. Besonders deutlich zeigt sich das an Theorien, die zur «Woke Culture» gehören und die Basis liefern für Identitätspolitik: Gender Studies, Queer Theorie, Intersektionalität, Postkoloniale Theorie, Critical-Race-Theorie, Disability Studies, Fat Studies, Social-Justice-Forschung.
Als Folge dieser Entwicklungen zählt im Wissenschaftsbetrieb und im universitären Alltag das Argument immer weniger, sondern die Herkunft, das heisst Hautfarbe, Geschlecht, Religion und die jeweilige Betroffenheit und Leiderfahrung der sprechenden Person.
Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann schreibt dazu:
«Anfangs ging es um Sichtbarmachung von Diskriminierung und Benachteiligung bestimmter Gruppen und Personen, um soziale Gerechtigkeit, Partizipation, Respekt und Anerkennung für alle in der Gesellschaft. Es war gut gemeint und dringend notwendig, auf Ungleichbehandlungen und Gerechtigkeitslücken aufmerksam zu machen und dies zu ändern. Doch es mündete in einer erschreckenden Masslosigkeit. Über die Jahre ist eine Opferkultur und zugleich eine Opferkonkurrenz entstanden, die gerade nicht die beschworene Selbstermächtigung von Individuen im Fokus hat, sondern jedes Leid und jede Ungleichheit aus der Perspektive der realen oder vermeintlichen Diskriminierung einzelner Gruppen durch die weisse, patriarchale, kapitalistische, mit kolonialer Schuld beladene ‘Mehrheitsgesellschaft’ sieht. Auf der Agenda der Aktivisten steht es daher, der Bevölkerung diesen unerhörten Zustand bewusst zu machen und in verhaltenstherapeutischer Manier läuternd auf sie einzuwirken, sie quasi umzuerziehen. Dies ist die Woke-Kultur, die in den amerikanischen Universitäten, im Kulturbetrieb und in der Linken ihren Ursprung hat. Sie breitet sich auch bei uns immer weiter aus und gleicht inzwischen einer Art Erweckungsbewegung, wie wir sie von den Evangelikalen kennen. Auch wenn wir über Jahrhunderte einen erfolgreichen Säkularisierungsprozess durchlaufen haben, schützt uns dies offensichtlich nicht vor dem Rückfall in vormoderne Denk- und Glaubenstraditionen. Der Wunsch nach Heil, nach Erlösung, nach Reinigung und Sühne ist denn auch in modernen, post- oder spätmodernen Zeiten nicht zu tilgen……
Die Woke Cultur mit ihrer Neigung zu Sprachmagie, Läuterungs- und Erweckungsprozeduren trägt tatsächlich religiöse Züge.»
Inzwischen ist die Woke-Kultur und die damit verbundene Identitätspolitik längst vom Campus tief in die Gesellschaft eingedrungen. Sie bezieht ihre Legitimation und Begründung aus den universitären Postcolonial Studies, der Critical Race Theory, der Critical Whiteness Theory und den Konzepten der Intersektionalität, die die verschiedenen Ansätze verknüpft und die Verbindung zu den Gender Studies und Queer-Studies herstellt.
Identitätspolitische Aktivistinnen und Aktivisten treiben damit Polarisierungen voran, die den Zusammenhalt der Gesellschaft, der seit Jahren bröckelt, weiter schwächen. Und es ist hoch fraglich, ob ausgegrenzte und diskriminierte Menschen von diesen Ansätzen relevant profitieren.
Postmodernismus als philosophische Basis der «Woke-Theorien»
Der Postmodernismus ist ein komplexes, facettenreiches Phänomen, das hier nicht annähernd hinreichend dargestellt werden kann. Deshalb sollen hier vor allem jene Grundzüge aufgezeigt werden, die prägend für die Identitätspolitik und ihre Verirrungen ins Gefilde der Verschwörungstheorien sind.
Den Postmodernismus zu verstehen ist jedoch ein Anliegen von einiger Dringlichkeit, weil er die Basis, auf der die gegenwärtige, hoch entwickelte Gesellschaft entstanden ist, ablehnt. Damit unterhöhlt der Postmodernismus potenziell die Grundlage, auf der die liberale, demokratische Gesellschaft steht.
Die Anfänge des Postmodernismus gehen auf die 1960er-Jahre zurück. Sie liegen in einer zu jener Zeit sich entwickelnden umwälzenden Veränderung der Geistesgeschichte, die mit den Philosophen Michel Foucault, Jacques Derrida und Jean-François Lyotard verbunden ist. Auf dem Boden ihrer postmodernen Theorien wird die Grenze zwischen dem, was als objektiv und wahr gilt, und dem, was subjektiv erfahren wird, hinfällig. Diese Grenze wird nicht mehr länger akzeptiert. Wissen, Wahrheit, Sinnhaftigkeit und Moral sind dem postmodernen Denken zufolge kulturelle Konstrukte und damit unterschiedlich von Kultur zu Kultur. Eine bestimmte Kultur hat nicht die notwendigen Werkzeuge und Begriffe, um Aspekte einer anderen Kultur zu bewerten. Kritik an Menschenrechtsverletzungen in einer anderen Kultur – ein universalistisches Unterfangen – wird dadurch die Legitimation entzogen.
Das postmoderne Wissensprinzip basiert auf einem radikalen Skeptizismus gegenüber objektivem Wissen und objektiver Wahrheit. Wissen und Wahrheit gelten als kulturell konstruiert.
Das politische Prinzip des Postmodernismus besteht in der Überzeugung, dass die Gesellschaft auf Machtsystemen und Hierarchien aufgebaut ist, die darüber entscheiden, was als Wissen oder Wahrheit gilt und wie das geschieht. Jedes Wissen ist also konstruiert und abhängig von Machtprozessen. Macht und Wissen sind dadurch untrennbar miteinander verbunden. Macht gilt als bestimmendes Strukturprinzip der Gesellschaft und die Infragestellung objektiven Wissens durch den Postmodernismus hängt damit unmittelbar zusammen. Postmodernisten neigen zur Annahme, dass Phänomene wie Rassismus und Sexismus sich nicht nur in rassistischen und sexistischen Handlungen und Äusserungen zeigen, sondern überall in die Gesellschaftsstrukturen und die Sprache eingebrannt sind. Damit sind auch alle Menschen daran beteiligt, auch wenn sie sich nicht offensichtlich rassistisch oder sexistisch äussern. Das kommt einer Verschwörungstheorie sehr nahe, wobei die unterstellte Verschwörung nicht von bestimmten Personen ausgeht, sondern in den Strukturen liegt.
Verschwörungstheorie ohne Verschwörer
Helen Pluckrose & James Lindsay beschreiben diese Phänomene in ihrem Buch «Zynische Theorien» so:
«Von aussen nur schwer zu durchdringen, gleicht diese postmoderne Sichtweise im Prinzip einer Art Verschwörungstheorie. Doch die Verschwörung, auf die sie anspielt, erfolgt auf äusserst subtile Weise. Sie ist streng genommen gar keine Verschwörung, denn es fehlen die koordinierten Einzelakteure, die im Hintergrund die Fäden ziehen: Wir sind vielmehr alle in sie verstrickt. Die postmoderne Theorie ist folglich eine Art Verschwörungstheorie ohne konkrete Verschwörer. Macht wird nicht unmittelbar und sichtbar von oben ausgeübt, wie es noch zu den Grundannahmen der marxistischen Klassentheorie gehörte, sondern durchzieht alle sozialen Interaktionen und kulturellen Diskurse, in denen sich ein bestimmtes Verständnis der Welt ausdrückt. Dieses übergreifende Machtgefüge zementiert – etwa in Form des Rechtssystems oder der gängigen wissenschaftlichen Publikationspraxis – vielschichtige Hierarchien und die Positionierung von Menschen in der Gesellschaft. Festzuhalten bleibt, dass hier stets die inhärenten Machtdynamiken des Systems als Ursache der Unterdrückung angesehen werden, weniger irgendwelche individuellen Akteure mit eigener Agenda. Gesellschaftliche Institutionen folgen nach dieser Lesart einer repressiven Logik, ohne dass die Menschen dabei selbst notwendigerweise offen repressive Sichtweisen an den Tag legen müssten.
Laut den Postmodernisten erfolgt Unterdrückung durch sich selbstverstärkende systemische Kräfte, die bestimmte Gruppen privilegieren – in einer Art unbewusster, ungeplanter Verschwörung. Demzufolge sind dem Herrschaftssystem in westlichen Gesellschaften patriarchalische, ’weisse’ und heteronormative Unterdrückungslogiken eingeschrieben, durch die der Status quo zementiert wird und der Zugang zu gesellschaftlichen Machtpositionen auf heterosexuelle weisse westliche Männer beschränkt bleibt, während Frauen und ethnische sowie sexuelle Minderheiten zu kurz kommen.»
Wenn der Postmodernismus und in der Folge auch die Identitätspolitik davon ausgehen, dass Rassismus und Sexismus in jeder Faser des Gesellschaftssystems eingebrannt sind, hat das eine Zwangsläufigkeit zur Folge, die wiederum ähnlich bei Verschwörungstheorien zu sehen ist. Verschwörungstheorien gehen davon aus, dass die Gruppe der Verschwörer politische, ökonomische und gesellschaftliche Vorgänge im Griff haben und sie zum Teil über lange Zeiträume vollständig kontrollieren können. Das ist ein unrealistisches, mechanistisches Gesellschafts- und Menschenbild, das den komplexen Prozessen in modernen Gesellschaften nicht gerecht wird.
Bei der Identitätspolitik steuert die in vorgegebene Gesellschaftsstrukturen eingebrannte, rassistisch und sexistisch eingefärbte Machtdynamik, umfassend das Geschehen.
Sowohl bei Verschwörungstheorien als auch in der Identitätspolitik wird damit die Komplexität reduziert. Identitätspolitische Aktivisten können alle Probleme der Welt auf diese in Diskursen und Gesellschaftsstrukturen verfestigten rassistischen und sexistischen Machtdynamiken zurückführen. Das verschafft ihnen die Illusion des Tiefblicks. Sie durchschauen – wie Neo im Film «Matrix» nach dem Redpilling – die oberflächliche Scheinrealität und erkennen die wahren Zusammenhänge. Nur die Aktivisten durchschauen, wie dieses System funktioniert.
Helen Pluckrose & James Lindsay schreiben zu diesen postmodernistisch-identitätspolitischen Theorien:
«Nichtsdestoweniger liefern diese Ideen vermeintlich tiefgründige Erklärungen für komplizierte Probleme. Sie konnten sich daher erfolgreich von obskuren akademischen Theoriegebilden zu allgemein anerkannten ‘Wahrheiten’ wandeln, die erklären, was die Welt im Innersten zusammenhält. Weil diese Ideen so weitverbreitet sind, wird sich die Lage nur verbessern, wenn wir sie entzaubern und ihnen entschieden entgegentreten – idealerweise, indem wir uns konsistenter liberaler Prinzipien und Moralauffassungen bedienen.»
Gemeinsamkeiten von Identitätspolitik und Verschwörungstheorien
Was sind nun die wichtigsten Gemeinsamkeiten, die sowohl im Kontext von Verschwörungstheorien als auch im Kontext der Identitätspolitik auftauchen?
☛ Beide gehen davon aus, dass eine schwer oder gar nicht erkennbare Macht im Hintergrund wichtige Vorgänge steuert und im Griff hat (Mechanistisches Menschen- und Gesellschaftsbild). Bei der Identitätspolitik besteht diese Macht nicht aus einer Gruppe von Verschwörern. Sie ist eingebrannt in gesellschaftliche Strukturen.
☛ Beide zeichnen eine Welt, die sich stark an einer Gut-Böse-Trennung orientiert. Bei der Verschwörungstheorie sind es die Verschwörer einerseits und ihre Opfer andererseits. Die Identitätspolitik trennt scharf in Täter-Kollektive und Opfer-Kollektive. Verschwörungstheorien und Identitätspolitik lehnen sich damit beide an alten religiösen Konzepten an, die zum Beispiel im Manichäismus zu finden sind.
☛ Beide können ein Gefühl der Erleuchtung vermitteln. Die «Aufgewachten» fühlen sich als Avantgarde gegenüber den «Schlafschafen». Der Übergang vom «Schlafschaf» zum «Aufgewachten» ist nicht selten mit einer Art von Erweckungserlebnis verbunden. Sowohl Verschwörungstheorien als auch Identitätspolitik zeigen hier Ähnlichkeiten mit den religiösen Vorstellungen der Gnosis. Die Identitätspolitik verstärkt diese religiösen Elemente noch durch eine Vorstellung, die der Erbsünde nahekommt. Danach tragen weisse Menschen die Erbsünde des Rassismus mit sich, unabhängig davon ob sie sich rassistisch verhalten oder nicht. Diese Schuld zu bekennen ist folgerichtig ein Weg hin zum «Aufgewachten». Der in dieser Szene gern verwendete Begriff «woke» bedeutet, dass Menschen, die die «Matrix» erkannt haben, nun buchstäblich «erwacht» sind.
☛ Durch die Illusion des Tiefenblicks kann bei Identitätspolitik und bei Verschwörungstheorien das Gefühl der Einzigartigkeit vermittelt werden.
☛ Verschwörungstheoretiker und Identitätsideologen recherchieren und forschen nicht ergebnisoffen. Im Gegenteil: Sie behaupten, dass es so und so ist. Dann suchen sie Belege dafür.
☛ Verschwörungstheorien und Identitätspolitik haben auch gemeinsam, dass in ihnen Argumente und Begründungen kaum eine Rolle spielen.
In der Identitätspolitik dominieren über weite Strecken Gefühle gegenüber Argumenten. Sebastian Herrmann schreibt dazu in seinem Buch «Gefühlte Wahrheiten»:
«An Universitäten in den USA und Europa werden subjektive Erfahrungen in manchen Disziplinen, etwa den Genderstudies oder anderen Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften in den Rang empirischer Erkenntnisse gehoben. Auto-Ethnographie nennt sich zum Beispiel eine Methodik aus den Geistes- oder Sozialwissenschaften, die sich auch böse als ‘Ich empfinde das so, deswegen ist das so’ übersetzen liesse, eine Art Tagebuchschreiben, die als wissenschaftliche Methode gilt. An amerikanischen Universitäten protestieren regelmässig Studenten gegen die Auftritte politischer Redner, deren Meinung sie ablehnen. Und sehr häufig führen sie als Begründung nicht viel mehr an, als dass deren Meinungen bei ihnen Unbehagen auslöse, sie wütend mache und sie sich durch den geplanten Auftritt unsicher fühlten.»
Der Sozialpsychologe Prof. Dr. Tilmann Betsch schreibt dazu in seinem Buch «Science matteres!»:
«Gefühle und Emotionen verlangen keine Begründung mehr. Statt durch Glauben wird die Begründung mit Rekurs auf das eigene Erleben abgebrochen. Dieses darf durch andere weder bewertet noch hinterfragt werden. Der subjektiven Wertung wird der Stellenwert einer absoluten Gewissheit zugemessen. Jeder weitere Diskurs, jede Diskussion über Gründe und Argumente oder gar die Haltungen anderer werden als Angriff auf die eigene Person, die eigene oder die zu schützende Gruppe betrachtet. Bei identitätsbegründeten Diskursen wird Gott durch das Individuum und dessen inneren Erlebenszustand ersetzt. Jedes Individuum wird damit ermächtigt, sich zum Polizisten über die Gedankenwelt anderer zu erheben. Was prompt in die Falle des Dogmas führt. George Orwells Dystopie von ‘1984’ lässt grüssen.»
Erfahrungen und Gefühle diskriminierter Gruppen und Individuen sind ernst zu nehmen. Gleichzeitig haben Gefühle nicht den Status von Argumenten. Sie ersetzen keine Argumente. Wenn überall Mikroaggressionen unterstellt und als dogmatische Wahrheiten verkündet werden, wird das Thema «Gefühle» jedoch zu identitätspolitischen Zwecken missbraucht.
Bei Verschwörungstheorien kommt es oft zur Geringschätzung von Argumenten und Begründungen auf der Basis von «Truthiness». Damit gemeint ist eine gefühlte Wahrheit, die unabhängig ist von der Faktenlage. Wenn es sich wahr anfühlt, ist es das auch, selbst wenn es nicht den wirklichen Gegebenheiten entspricht.
Wenn jemand zum Beispiel sagt,
….dass Corona nicht gefährlicher sei als eine Grippe,
….dass es keine Klimaerwärmung gebe, weil es doch gerade schneie,
dann wird es immer Menschen geben, die solche Aussagen für wahr halten, nur weil sie sich für sie wahr anfühlen. Argumente, Begründungen und Fakten spielen im «Biotop» der «Truthiness» keine Rolle mehr.
Fake News und Verschwörungstheorien werden genau dann für wahr gehalten, wenn sie sich wahr anfühlen.
Das heisst vor allem, wenn sie dem eigenen Weltbild, den eigenen Vorurteilen und den eigenen Ressentiments nah sind. Und in stark polarisierten Gesellschaften wird jede Information blitzschnell mit dem Bauchgefühl geprüft: Fühlt sie sich nach dem eigenen Lager, dem eigenen «Stamm» an, dann wird sie eingelassen, «riecht» sie gefühlsmässig auch nur entfernt nach dem Gegenlager, wird sie abgewiesen (Siehe dazu: Tribalismus). Leider sind solche «Bauchprüfungen» viel schneller und mit viel weniger Aufwand verbunden als Faktenchecks.
Das «Truthiness»-Prinzip zeigt sich deutlich auch im Umgang mit Verschwörungstheorien. Wenn mir klar ist, dass die US-Regierung aus Schurken besteht, dann ist das Urteil über 9/11 schon im Moment klar, in dem das Ereignis stattfindet. Das kann ja nur eine False-Flag-Operation sein……….
☛ Verschwörungstheorien zeigen wie auch die Identitätspolitik an vielen Stellen eine starke ausgebaute Kritikabwehr, eine Immunisierung gegen Kritik. Wer Verschwörungstheorien kritisiert, wird rasch ins Lager der Verschwörer gestellt oder ist zu mindestens von ihnen gekauft. Auf den Einwand, dass es für satanistisch-rituellen Kindesmissbrauch keine Beweise gebe, kommt in der Regel prompt die Erklärung, dass die Verschwörer halt so mächtig und einflussreich sind, dass sie alle Beweise verschwinden lassen können. Diese Immunisierungsstrategie gegen Kritik ist charakteristisch für Verschwörungsgläubige. Die Tatsache, dass es keine Beweise gibt, fassen Verschwörungsgläubige als Bestätigung ihrer Überzeugungen auf: Es gibt keine Beweise, weil die Verschwörer so mächtig sind, dass sie alle Zeugen und Dokumente verschwinden lassen können.
Auch die Identitätspolitik setzt wirkungsvolle Strategien der Immunisierung ein. Dabei kommt oft die Standpunkttheorie zur Anwendung. Wer Theorien oder Aktivitäten der Identitätspolitik kritisiert, muss nicht ernst genommen werden, wenn er oder sie vom «falschen Standpunkt» her spricht. Zum Beispiel aus der Position des «alten, weissen Mannes», der sich vom guten Kampf der Identitätspolitik nur angegriffen fühlt. Eine solche Kritik kann nicht nur als irrelevant erklärt werden. Sie wird geradezu als Beweis für die Wichtigkeit des identitätspolitischen Engagements gelesen.
Fazit
☛ Zwischen der Identitätspolitik und Verschwörungstheorien gibt es Unterschiede – die Identitätspolitik geht nicht von Personen als Verschwörer aus, sondern sieht die «Verschwörung» in Strukturen, Diskursen und Machverhältnissen eingebrannt. Und es gibt Gemeinsamkeiten wie das scharfe Gut/Böse-Denken und weitere religiös angehauchte Elemente wie Erweckungserlebnisse – «Wokeness» in der Identitätspolitik und die Idee der «Aufgewachten» in den Verschwörungstheorien.
☛ Wichtig ist bei diesem Thema, dass Kritik an der Identitätspolitik auch dann möglich ist, wenn man viele ihrer Grundanliegen teilt. Zahlreiche von der Identitätspolitik aufgeworfene Probleme gibt es tatsächlich und ein Engagement gegen Rassismus, Sexismus und andere Diskriminierungen ist grundsätzlich wichtig und nötig. Die Identitätspolitik ist jedoch ein hochgradig fragwürdiger Weg, diese Probleme anzugehen und die Lage diskriminierter Minderheiten real zu verbessern..
☛ Aus der radikaleren rechten Ecke kommt die Identitätspolitik unter Beschuss, weil diese Kreise gegen Gleichberechtigung und Gleichheit sind und Rassismus und Sexismus ihr «Kerngeschäft» ausmachen. Dagegen ist Widerstand nötig. Die Grundanliegen der Identitätspolitik sind – wie schon erwähnt – oft berechtigt. Der Weg dagegen kann und soll kritisch hinterfragt werden, aus konservativer, liberaler und linker Perspektive. Es wäre ein kapitaler Fehler, diese Kritik den Rechten zu überlassen.
☛ Identitätspolitik fördert Kulturkämpfe und die damit verbundene Spaltung und Polarisierung. Sie vergiftet Diskurse und schadet demokratischen Gesellschaften. Francis Fukuyama schreibt in seinem Buch «Identität»:
«Die Zunahme der Identitätspolitik in modernen liberalen Demokratien ist eine ihrer Hauptbedrohungen. Wenn es uns nicht gelingt, zu einem universalen Verständnis der menschlichen Würde zurückzukehren, werden wir zu ständigen Konflikten verurteilt sein.»
☛ Darüber hinaus ist aber auch sehr fragwürdig, ob die eigentlich Diskriminierten von identitätspolitischen Aktivitäten wirklich profitieren, handelt es sich doch oft um Scheingefechte einer privilegierten Schicht. Nils Heisterhagen zitiert dazu in seinem Buch «Verantwortung» den Soziologen Frank Furedi:
«Zwischenmenschliche Solidarität ist eines der grössten Opfer der Identitätspolitik. Sobald sich verschiedene Gruppen in ihre ‘Safe Spaces’ zurückgezogen haben, bleibt kaum noch Platz für diejenigen, die sich der Politik der Solidarität und dem Ideal des Universalismus verschrieben haben.»
Ergänzungen:
☛ Sinan hat in seinem YouTube-Kanal «Sinanswoche» ein Gespräch mit dem Philosophen Nikil Mukerji geführt, in dem es um Identitätspolitik geht. Dabei kommen auch Verbindungen zu Verschwörungstheorien zur Sprache:
Das Problem der „Critical Studies“ | Gespräch mit Nikil Mukerji:
☛ Das unten stehenden Video aus «Sinanswoche» erklärt die Standpunkttheorie und weist darauf hin, dass die Identitätspolitik Züge einer Ersatzreligion zeigt:
Identitätspolitik | Eine Ersatzreligion | SinansWoche DIE SHOW:
Quellen:
☛ «Zynische Theorien – Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt», von Helen Pluckrose und James Lindsay. C.H.Beck Verlag 2022 (Zitate Seiten 38/39 und 72).
☛ Zusammenfassender Bericht zum Buch «Zynische Theorien», verfasst von Martin Mahner: «Zynische Theorien – Wie Identitätsideologie die Geistes- und Sozialwissenschaften beschädigt», erstmals erschienen in «Skeptiker» Nr. 1/2021.
☛ «Die neue Schweigespirale – Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit einschränkt», von Ulrike Ackermann, wbg Theiss Verlag 2022.
☛ «Gefühlte Wahrheit», von Sebastian Herrmann, Aufbau Verlag 2019 (Seite 20)
☛ «Konstruierte Wahrheiten», von Thomas Zoglauer, Springer Vieweg Verlag 2021.
☛ «Science matters! – wissenschaftlich statt querdenken», Tilmann Betsch, Springer Verlag 2022 (Seite 98).
☛ «Trigger-Warnung – Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen», von Eva Berendsen, Meron Mendel, Saba-Nur Cheema (Hrsg.), Verbrecher Verlag 2019.
☛ «Identitätspolitik – Irrwege und Auswege», von Rüdiger H. Rimpler, tredition Verlag 2019.
☛ «Verantwortung – für einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels», von Nils Heisterhagen, DIETZ Verlag 2020 (Zitat Seite 63).
☛ «Identität – Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet», von Francis Fukuyama. Hoffmann und Campe Verlag 2019 (Zitat Seite 17).
☛ Beitrag «Identitätspolitik» auf Wikipedia.
☛ Beitrag «Standpunkt-Theorie» auf Wikipedia.
☛ „Ich habe einen Traum – Ansprache während des Marsches auf Washington für Arbeitsplätze und Freiheit“, U.S. Diplomatic Mission to Germany, Rede von Martin Luther King in deutscher Übersetzung.
Ausserdem als Beitrag zum Thema „Identitätspolitik“:
Identitätspolitik und Postfaktualismus greifen Basis der Wissenschaft an
Identitätspolitik liegt falsch: Die Biologie kennt zwei Geschlechter, nicht mehr