Identitätsbildung sucht und findet Antworten auf Fragen wie:
«Wer bin ich?»
«Wo stehe ich in der Welt, in der Gesellschaft?»
Verschwörungstheorien können zur Identitätsbildung beitragen. Ihre Mitwirkung in diesem Prozess ist allerdings fragwürdig und oft destruktiv.
Die Vorstellung einer Verschwörung vermittelt Zugehörigkeitsgefühle durch Abgrenzung und Zuschreibung negativer Identitätsmerkmale gegenüber den als «böse Mächte» geltenden feindlichen Gruppen und ihren angeblichen Werten.
Diese Wirkung entspringt dem dualistischen Weltbild, das vielen Verschwörungstheorien zugrunde liegt. Der Dualismus ist geprägt vom Kampf des «Guten» gegen das «Böse». Zu letzterem gehören dann die angeblichen «Verschwörer», die von den Verschwörungsgläubigen als Feindbilder diabolisiert und verdammt werden.
Sich selber schreiben Verschwörungsgläubige positive Identitätsmerkmale zu. Sie gehören zu den «Guten», weil sie die «Verschwörung» durchschaut haben. Das kann so weit gehen, dass sie sich als «Aufgewachte» beschreiben. Daraus entsteht nicht selten ein «Welterrettungsdrang» und damit verbundene Missionierungsbemühungen.
Verschwörungsgläubige grenzen sich aber auch ab vom «Mainstream», also der Mehrheitsgesellschaft, die als unwillig oder unfähig betrachtet wird, die Verschwörung zu durchschauen. Diesem «Mainstream» werden ebenfalls negative Identitätsmerkmale zugeschrieben, die in diesem Fall nicht auf Bosheit hinauslaufen, sondern auf Dummheit, Blindheit, Hörigkeit. Schön zusammengefasst wird das in der gern verwendeten Bezeichnung «Schlafschafe» für alle, welche die Vorstellungen der Verschwörungsgläubigen nicht teilen.
Identitätsbildung kann politisch missbraucht werden
Identitätsbildung lässt sich leicht auch im Bereich von Demagogie und Manipulation einsetzen und wird zu diesem Zweck gern von Autokraten missbraucht. Armin Pfahl-Traughber zeigt das an einem Beispiel aus den antifreimaurerischen Verschwörungsideologien. Er zitiert dazu aus einer Ausgabe des «Schulungsbriefs», dem «zentralen Monatsblatt der NSDAP und DAF». Die Zeitschrift publizierte im Juli 1939 eine Ausgabe mit dem Titel «Kampf der Freimaurerei», worin sich eine Auflistung von weltanschaulichen Gegensätzen fand:
«1. Nationalsozialistische Rassenlehre und freimaurerisch-liberalistisches Toleranzideal»,
«2. Nationalsozialistische Volksgemeinschaft und freimaurerische Humanität»,
«3. Nationalsozialistischer Volksstaat und westlich-liberaler Staatsbegriff der Freimaurerei»,
«4. Nationalsozialistischer Wehrgedanke und freimaurerischer Pazifismus.»
Die Ablehnung von jeweils letzterem stärkte im Sinne des Nationalsozialismus die Zugehörigkeit zu jeweils ersterem.
Über die Identitätsbildung kann sich so in Verbindung mit Verschwörungstheorien ein Zugehörigkeitsgefühl und ein Zusammenhalt von Gruppen entstehen. Im Extrem kann sich das in Richtung Tribalismus weiterentwickeln, einem Stammesdenken, das wiederum einen guten Nährboden für weitere Verschwörungstheorien bietet.
Zur Ausbreitung einer verschwörungstheoretischen Politik auf dem Boden von Identitätsbildung sagt Peter Pomerantsev in einem Gespräch mit der Zeitschrift «Internationale Politik»:
«In einer Welt, in der die alte Parteienlandschaft zusammenbricht, in der alte soziale Rollen von extremen Umwälzungen in den Medien und in der globalisierten Wirtschaft durchbrochen werden und in der ganze Industriezweige verschwinden, ist Identitätsbildung das Kerngeschäft aller politischen Bewegungen. Das gilt sowohl für Islamisten als auch für Rechte als auch – leider – für die neue Linke. Wer auch immer sich gerade als Gruppe formiert, kann Verschwörungstheorien zu seinem Vorteil nutzen. Diese Entwicklung gab es tatsächlich schon länger, aber jetzt betrifft sie auch den Westen. Er wird langsam ähnlich chaotisch und ideologisch bespielbar wie der Rest der Welt. In Russland konnte man dieses epistemische Chaos und den Aufstieg der verschwörungstheoretischen Politik schon in den 1990er Jahren beobachten. Jetzt sieht man das Chaos überall.»
Prävention destruktiver Identitätsbildung auf dem Boden von Verschwörungstheorien
Die Erlangung einer eigenständigen Identität zählt zu den wichtigsten Herausforderungen im Jugendalter. Der Prozess der Identitätsbildung ist jedoch mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter nicht abgeschlossen.
Wenn Identitätsbildung unter Zuhilfenahme von Verschwörungstheorien problematisch ist, wie kann eine gesunde Identitätsbildung gefördert werden?
Identitätsbildung vollzog sich früher in relativ geruhsamen Bahnen, in langfristig stabilen Lebensperspektiven und im Kontext eines allgemein anerkannten Systems von Werten und Normen. Das hat sich verändert und Identität muss heute zunehmend vor dem Hintergrund rasanter Veränderungen ausbalanciert werden.
Identität kann nicht mehr statisch bleiben.
Nötig wird eine permanente, aktiven Konstruktionsleistung, um Identität zu erzeugen und über wechselnde Kontexte hinweg stabil zu halten.
Weil unsere Welt vielfältiger wird und damit die Wahlmöglichkeiten zunehmen, wird auch unsere Identität komplexer und der Koordinierungsaufwand zwischen zum Teil widersprüchlichen Persönlichkeitsteilen grösser.
Zu den Fähigkeiten, die zu diesem Zweck gefördert werden müssten, gehören beispielsweise:
☛ Die Fähigkeit, Kontroversen und Konflikte auszutragen, ohne sich in dualistischen Feindbild-Konstruktionen zu verfangen. Dazu ist es wichtig, die Grundzüge dualistischen Denkens gut zu verstehen. Dabei hilft oft das Verständnis seiner religiösen Wurzel. Siehe dazu:
Gnosis und Verschwörungstheorien
Manichäismus & Verschwörungstheorien
Die Philosophin Marie-Luisa Frick hat in ihrem Reclam-Bändchen «Zivilisiert streiten» den wichtigen Unterschied zwischen Gegnerschaft und Feindschaft beschrieben. Zitat dazu hier: Zum Unterschied zwischen Gegnerschaft und Feindschaft .
☛ Die Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Mehrdeutigkeiten, Widersprüche oder andere Sichtweisen auszuhalten und selbst in kulturell oder sozial unbekannten Situationen wohlwollend und un-aggressiv zu reagieren. Siehe dazu:
Demokratie braucht Ambiguitätstoleranz – Verschwörungstheorien meiden sie
Diese für eine gesunde persönlich Identitätsbildung wichtigen Lernprozesse sind nicht nur eine Aufgabe der einzelnen Individuen. Wir müssen uns auch fragen, wie wir als Gesellschaft dafür günstige Bedingungen schaffen können, in der Schule zum Beispiel oder auch in ganz anderen Bereichen.
Quellen:
«Funktionen von Verschwörungsideologien», von Armin Pfahl-Traughber, in: Helmut Reinalter (Hg.): Handbuch der Verschwörungstheorien, Salier Verlag 2018
„Wir sind in einem großen Krieg“ – Ein Gespräch mit Peter Pomerantsev (Internationale Politik)
Impuls: Identitätsbildung (Bundeszentrale für politische Bildung)