Adolf Hitler war in seinem Denken und Handeln zutiefst geprägt von Verschwörungstheorien, vor allem von der angeblichen «jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung». Hitler war und ist aber auch Ziel einer ganzen Reihe von Verschwörungstheorien, die insbesondere nach seinem Tod entstanden. Die meisten dieser Verschwörungstheorien drehen sich um die Vorstellung, dass Hitler aus dem Bunker entkommen sei und überlebt habe. Wie das geschah und wohin «der Führer» geflohen sei, dazu gibt es unterschiedliche Varianten.
Laut der etablierten Geschichtsschreibung starb Hitler am 30. April 1945 im Führerbunker. Er erschoss sich, wurde wie von ihm befohlen von Mitgliedern des Führerbegleitkommandos verbrannt und anschliessend in der Nähe des Bunkerausgangs mit anderen Leichen zusammen begraben. Die Verschwörungstheorien vom Überleben Hitlers sind nicht einfach nur harmlose exzentrische Phantasieprodukte. Gefälschte Geschichte richtet Schaden an und kann negative Folgen mit sich bringen.
Der Mythos von Hitlers Überleben wurde in vielfältigen Varianten beschrieben, die hier nicht alle wiedergegeben werden sollen. Von all diesen Verschwörungstheorien war diejenige, nach der Hitler und Eva Braun nach Argentinien entkam, am weitesten verbreitet und am langlebigsten. Für sie sprach immerhin, dass Argentinien unter dem Diktator Juan Perón dafür bekannt war, Ex-Nazis, deren Fachwissen für den wirtschaftlichen oder militärischen Aufbau des Landes gefragt war, zur Flucht zu ermuntern. Das geschah gewöhnlich entlang der «Rattenlinie» über die Alpen, häufig mit der Hilfe eines katholischen Bischofs, des Österreichers Alois Hudal, und mit Rückendeckung des Vatikans.
Aber eine banale Flucht über die «Rattenlinie» schafft keinen besonderen Mythos für den «Führer» und ist für seine Anhänger nicht besonders erhebend. Anders sieht es mit dem Neuschwabenland-Mythos aus. Beim Neuschwabenland handelt es sich um eine küstennahe Gegend in der Antarktis. Eine deutsche Expedition erkundete die Region 1938/39. Nach der Ankunft des Schiffs «Schwabenland» rammte die Besatzung an der Küste Pfähle mit Hakenkreuzfahnen in den Boden. Von dieser Szene existieren sogar Fotos. Laut dieser Verschwörungstheorie hat bis Kriegsende ein Geheimkommando dort Höhlen ausgehoben, einen autarken Außenposten eingerichtet und Vorräte eingelagert. Angeblich sollen sich hochrangige Nationalsozialisten und auch Adolf Hitler im Jahr 1945 dorthin zurückgezogen haben. Zusammen mit geheimen Waffen, Gold und anderen Werten.
Welche Funktion hat die Verschwörungstheorie, dass Hitler überlebt hat?
Die verschiedenen Varianten darüber, wie und wo Hitler überlebt hat, bezeugen vor allem die Fantasie der Verfasser. Belastbare Argumentationen oder gar Belege liefern sie nicht. Interessanter ist deshalb die Frage, welche Funktion die Verbreitung dieser Verschwörungstheorien für die Verbreiter hat und welche Folgen daraus für die Gesellschaft entstehen.
Der amerikanische Historiker Donald M. McKale nahm in seinem 1981 erschienenen Buch «Hitler, The Survival Myth», zahlreiche dieser Verschwörungstheorien unter die Lupe. All diese Behauptungen, schrieb McKale, «beruhen auf Annahmen und Unterstellungen und nicht auf Dokumenten oder Aussagen tatsächlicher Augenzeugen». Die Vorstellung von Hitlers Überleben habe sich jedoch bis 1950 in der populären Mythologie festgesetzt. Der Gedanke, dass Hitler dem Druck nachgegeben und Selbstmord begangen haben könnte, sei für manche einfach unerträglich.
McKale schreibt:
«Dass er ein Komplott geschmiedet habe, um die Welt zu täuschen, mit dem er erneut sein böses Genie offenbarte, ist ein gefährliches Thema, das uns geblieben ist. Heute ist es hauptsächlich die Domäne der Unterhaltungsindustrie und daher scheinbar harmlos, zumindest auf den ersten Blick. Aber indem sie die ‘Tatsache’, dass Hitler tot ist, ignorieren, rufen solche Darstellungen, ob nun absichtlich oder nicht, bei gegenwärtigen und künftigen Generationen den Eindruck hervor, dass Hitler zwar der schlimmste Massenmörder der Geschichte war, aber auch eine Art Superman, der die Welt ein letztes Mal zum Narren gehalten habe….
Sein angebliches Überleben allen Widrigkeiten zum Trotz wird implizit zum Beweis von etwas fast Unmenschlichem und Göttlichem. Dies ist eine Art von Mythenbildung, die potenziell das unbewusste Verlangen nach einem ‘neuen Hitler’ wecken kann – nach einer charismatischen, legendären Figur, die einen Massenprotest gegen repressive Übel wie den Kommunismus oder die dekadente westliche Kultur anführen kann.» (zit. nach Evans 2020)
Die Befürchtung, dass Hitler durch solche Verschwörungstheorien einen Heldenstatus erhalten könnte, hat sich für die breite Masse nicht bewahrheitet. Allerdings verbergen sich hinter scheinbar harmlosen Versuchen, Hitlers Überleben zu beweisen, häufig rechtsextreme Motive. Manche der alternativen Wissensgemeinden, die sich der Verschwörungstheorie von Hitlers Überleben verschrieben haben, gehören eindeutig einem rechtsextremen Milieu an und sind vom Glauben erfüllt, dass Hitler niemand gewesen sei, der in einem unterirdischen Bunker durch einen schäbigen Selbstmord abgetreten wäre. Dieser Wunsch, den «Führer» von der Schmach seines wirklichen Tods zu befreien, hat den meisten Fassungen der Überlebenstheorie einen Charakter verliehen, durch den sie sich deutlich von anderen Verschwörungstheorien unterscheiden.
Richard J. Evans schreibt dazu:
«Wenn man für einen Moment die Idee von Hitlers Flucht aus dem Bunker ernst nimmt, ist klar, dass es eine Verschwörung von beträchtlichem Ausmass gegeben haben muss, die sein gesamtes Gefolge im Bunker, bedeutende Teile der Reste von Heer, Luftwaffe und Marine, wichtige Vertreter des argentinischen Establishments sowie höchstwahrscheinlich auch Mitarbeiter von FBI und CIA umfasst haben musste. Aber wenn es eine solche ausgeklügelte Verschwörung gab, warum hätten dann so viele der Beteiligten, angefangen mit Joseph und Magda Goebbels, die in das Komplott eingeweiht gewesen sein müssten, Selbstmord begehen sollen, anstatt die Gelegenheit zu nutzen und zusammen mit Hitler zu fliehen. Wer auch immer beteiligt gewesen wäre, die Flucht hätte mit dem Wissen hoher Militärs detailliert geplant worden sein müssen, und sowohl die Flucht aus dem Bunker als auch Hitlers langjähriger Aufenthalt in Argentinien hätte das absolute lebenslange Schweigen aller erfordert, die daran beteiligt waren.»
Der Historiker Richard J. Evans weist noch auf eine weitere unerwünschte Nebenwirkung solcher Verschwörungstheorien hin:
«Wie so oft in Verschwörungstheorien wird anerkannte professionelle Gelehrsamkeit als ‘offiziell’ abgetan, so als seien Tausende von Historikern und Investigativjournalisten allesamt von ihren Regierungen verleitet worden, Lügen zu verbreiten, oder als hätten sie sich von staatlicher Propaganda narren lassen.»
Das könne nicht nur die Wahrheit von Schlussfolgerungen in Zweifel ziehen, «die durch akribische historische Forschungen gewonnen wurden, sondern die Idee der Wahrheit selbst. Und ist diese erst einmal diskreditiert, ist die Organisation der Gesellschaft nach rationalen Regeln und auf der Grundlage begründeter, informierter Entscheidungen gefährdet.»
Das kann auch zur Überzeugung beitragen, dass wir ganz allgemein hinters Licht geführt werden – von Wissenschaft, Medien und Politik – und die Frage aufwerfen, was sie uns alles verschweigen. Das kommt dann einer Verschwörungsmentalität nahe und kann schlussendlich in toxischem Misstrauen enden – im Gegensatz zu gesundem Misstrauen. Siehe dazu: Über toxische Zweifel und toxisches Misstrauen
Alternative Wissensgemeinden
Wie bei anderen Verschwörungstheorien auch, gehören die Anhängerinnen und Anhänger der «Hitler-hat-überlebt»-Legende der einen oder anderen Strömung «alternativen Wissens» an. Ihnen gemeinsam ist die Verachtung für das «offizielle Wissen» oder für den «Mainstream», wie sie es abwertend nennen. Sie sind überzeugt, dass weltweit Medien, Historiker, Journalisten und sonstige Autoren, die über Hitler geschrieben haben, durch eine raffinierte Verschwörung zum Glauben verleitet wurden, dieser sei tot, obwohl er es in Wirklichkeit nicht gewesen sei.
Wie bei anderen Verschwörungstheorien bilden sich Gemeinden Gleichgesinnter, die ihre Identität und ihr Selbstwertgefühl durch die Ergänzung immer neuer Details stärken, die ihr Ansehen bei den anderen Angehörigen ihrer jeweiligen Gemeinde heben (zurzeit auch zu beobachten beim QAnon-Kult).
Für manche Anhängerinnen und Anhänger sind solche Überzeugungssysteme eine Chance, alternative oder parallele Welten zu betreten, in denen sie die Realität gestalten oder kontrollieren können, ohne sich ihrer unausweichlichen Komplexität stellen zu müssen. Enttäuschende historische Ereignisse wie Hitlers Tod (oder bspw. Trumps Abwahl) können in diesen «Alternativen Wissensgemeinden» «richtiggestellt», komplexe Verwicklungen vereinfacht und Phantasiewelten oder virtuelle Vorstellungsgebilde geschaffen werden, die für die Schwierigkeiten und Frustrationen des Alltags entschädigen.
Quelle:
«Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien», von Richard J. Evans, DVA 2020.