Halbwahrheiten sind Äusserungen, die nur zu einem Teil auf tatsächlichen Ereignissen, zu einem anderen Teil jedoch auf fiktiven Inhalten basieren. Es geht dabei um Äusserungen, die reale Sachverhalte übertreiben, umdeuten oder in falsche Zusammenhänge stellen; oder auch um Äusserungen, die wesentliche Informationen weglassen.
Halbwahrheiten unterscheiden sich fundamental von der Lüge. Die Lüge bleibt als Gegensatz an die Wahrheit gebunden. Das trifft auf die Halbwahrheit nicht zu. Der Begriff umschreibt vielmehr das Verschwimmen, die Diffusion einer klaren Unterscheidung von wahr und falsch. Die Halbwahrheit schreibt der Wahrhaftigkeit sozusagen keinen Wert mehr zu. Sie biegt sich die Dinge zurecht und orientiert sich dabei an ganz anderen Kriterien, beispielsweise an Glaubwürdigkeit, Passförmigkeit, Sinnzusammenhang (Kohärenz) und so weiter. Dieses Verschwimmen von wahr und falsch macht es auch schwer, die Halbwahrheit zu widerlegen, denn wer sie enttarnen will, folgt meist dem Muster: «Ja, aber».
Denn schliesslich ist ja an einem Teil der Aussage durchaus etwas Wahres dran. Dadurch werden Widerlegungen automatisch komplexer und sind weniger erfolgreich.
Denn wer an eine Halbwahrheit glauben will, beachtet nur das einleitende «Ja» und überhört das folgende «aber». Dieses Aussortieren wird begünstigt durch den Bestätigungsfehler (Confirmation bias): Wir nehmen bereitwillig auf, was unserem Weltbild entspricht, und ignorieren oder wehren ab, was ihm entgegensteht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Halbwahrheiten nicht nach dem Schema von wahr / falsch funktionieren, sondern nach Schemen wie glaubwürdig / unglaubwürdig, gefühlsbetont / nüchtern, verbindend / geschlossen.
Wenn Halbwahrheiten im Rahmen einer sinnstiftenden Erzählung (Narrativ) operieren, kommt es auf die Gestaltung eines sinnstiftenden Zusammenhangs (Kohärenz) an, und nicht wie bei der Wahrheit auf die Übereinstimmung mit einem externen Sachverhalt.
Mit der Bedeutung der Halbwahrheiten im Kontext von Fake News und Verschwörungstheorien hat sich die Basler Literaturprofessorin Nicola Gess befasst. Auf ihrem Buch und auf ihren Erläuterungen in Interviews basiert dieser Beitrag.
Beispiele für Halbwahrheiten im Kontext von Verschwörungstheorien
Im Interview mit «BZ Basel» geht Nicola Gess auf das Beispiel von Daniele Ganser ein, der stark mit Aussparungen arbeitet:
«Ganser ist ein interessanter Fall. Er setzt vor allem auf Suggestion und Insinuation. So gibt er seinem Publikum das Gefühl, an der Aufdeckung der Verschwörung mitgearbeitet zu haben. Das ist ein ganz wichtiger Pull-Faktor: Es liefert das Gefühl des Auserwählt-Seins und der Handlungsmacht. Dass das klappt, liegt auch an etwas, das Psychologen als motiviertes Denken beschreiben: Man zieht nicht Schlüsse aus Fakten, sondern geht von den Schlüssen aus und lässt nur jene Fakten gelten, welche die eigene These stützen. Gansers vermeintliche Beweise sind immer sehr selektiv.»
In ihrem Buch greift Gess in diesem Zusammenhang den Begriff des «Prosumenten» auf. Konsument und Produzent fallen im Umgang mit Halbwahrheiten oft zusammen, ähnlich wie bei einem Gerücht: Die Halbwahrheit wird aufgenommen, weitererzählt und dabei zugleich weitergesponnen. Das «gemeinsame Produkt» bekommt dadurch mehr Glaubwürdigkeit (siehe dazu auch: IKEA-Effekt).
Dieses Phänomen zeigt Gess in ihrem Buch unter anderem an einem Video des Verschwörungstheoretikers Ken Jebsen.
Im Interview mit der «Republik» erklärt Nicola Gess, dass Halbwahrheiten die Brücke schlagen von einem faktenbasierten Diskurs in ein Universum der Spekulation und der Fiktion, «in dem nicht mehr die Unterscheidung von wahr und falsch der Massstab ist, sondern ganz andere Kriterien wichtig sind, zum Beispiel, ob die Geschichte glaubwürdig und für mich oder mein Publikum passend ist.»
So erhalten die Zuschauerinnen und Zuschauer Geschichten, die sie vielleicht erfreuen oder in ihrer Meinung bestätigen oder ihr die Welt erklären:
«Jebsens Zuschauerinnen haben vorher das Gefühl, sie verstehen gar nichts. Und danach haben sie alles geschnallt. Das ist es, was seine Verschwörungserzählungen leisten: Sie erklären die Welt.»
Und was dabei nicht passe, das werde passend gemacht. Das geschehe aber nicht nur auf der Seite der Geschichtenerzähler, sondern auch auf der anderen Seite, bei den Lesern und Anhängerinnen: Gess beschreibt dazu das psychologische Phänomen des «motivierten Denkens». Das ist ein Denken, das auch zentral ist für das Funktionieren von Verschwörungstheorien: Man glaubt dabei nur noch, was man glauben will.
Nicola Gess hat sich vor allem dafür interessiert, wie Ken Jebsen Halbwahrheiten einsetzt, um seine Verschwörungstheorie zu plausibilisieren.
Halbwahrheiten in Ken Jebsen’s Video «Gates kapert Deutschland»
Im Video «Gates kapert Deutschland» wirke Jebsen wie ein «Tagesschau»-Sprecher und komme seriös daher. Dies im Gegensatz zu anderen Videos, in denen er sich zum Teil auch mal absurd verkleide (und sich damit an einen harten Kern der Anhängerschaft wende). Das Video «Gates kapert Deutschland» sei dagegen von Anfang an darauf ausgerichtet gewesen, ein möglichst breites Publikum zu erreichen:
«Jebsen greift darin die Halbwahrheiten-Geschichte auf, das Ehepaar Gates habe die WHO gekauft, habe sich in die deutsche Regierung eingekauft und habe auch den ‹Spiegel› und andere deutsche Medien gekauft, damit die alle das tun, was das Ehepaar Gates will. Der faktische Anteil dieser Behauptung ist gering. Das haben Faktenchecker schnell gezeigt. Die WHO beispielsweise finanziert sich zu einem Viertel aus Pflichtbeiträgen der Mitgliedsstaaten und zu etwa drei Vierteln aus Spenden von Regierungen und Stiftungen und auch privaten Geldgebern. Zu diesen privaten Spendern gehört auch die Gates-Foundation. Immerhin stammen aktuell 10 Prozent der Mittel der WHO von ihr. Die Gates-Stiftung ist also in der Tat eine grosse Einzelquelle der WHO. Und das meine ich, wenn ich sage, Ken Jebsen hat sein Beispiel geschickt gewählt: Denn nur deshalb, weil die Gates-Stiftung in der Tat signifikant zur Finanzierung der WHO beiträgt, kann er daraus eine überzeugende Halbwahrheit stricken.»
Trotzdem bleibe es natürlich falsch, aus diesen 10 Prozent zu folgern, dass Bill Gates die WHO gekauft habe oder sie komplett kontrollieren könne: «Aber die 10 Prozent statten seine Halbwahrheit trotzdem mit einer Glaubwürdigkeit aus, die entscheidend ist für ihr Gelingen», erklärt Gess, und fährt fort:
«Auf dieses Video stossen nun primär Leute, die schon eine gewisse Bereitschaft mitbringen, Jebsen in seinen Erklärungen zu folgen.»
Wer dann zuerst einmal prüfen wolle, was der Mann da erzähle, und im Netz womöglich nach den Begriffen Gates und WHO und Finanzierung suche, stosse tatsächlich darauf, dass Gates zur Finanzierung der WHO beitrage: «Und dieser vermeintliche Beleg genügt dann häufig, um den ganzen übertriebenen, dekontextualisierten und zu grossen Teilen frei hinzuerfundenen Rest auch zu glauben.»
Halbwahrheiten verschaffen Verschwörungstheorien Glaubwürdigkeit
Verschwörungstheoretische Erzählungen setzen für die Produktion von Glaubwürdigkeit oft auf Halbwahrheiten. Ihr wahrer Anteil versorgt die Verschwörungstheorie dann mit einer Art Scheinevidenz, sodass man auch den Rest gar nicht mehr in Frage stellt. Viele Verschwörungstheorien sind nämlich nicht einfach Theorien, sondern funktionieren stattdessen mehr wie Geschichten: Es geht in ihnen um Helden und Bösewichte, um eine Handlung mit Anfang und Ende. Das spricht uns leichter an und stillt unseren Durst nach Sinn.
Eine Halbwahrheit kombiniert also ein tatsächliches Ereignis mit einem erfundenen Element. Das kann beispielsweise eine Übertreibung sein, eine Umdeutung, eine Verzerrung oder ein falscher Zusammenhang. Die Halbwahrheit liefert so eine glaubwürdige Geschichte und eine vermeintlich einfache Erklärung zu einem komplexen Problem.
Gegen Ende Ihres Buches schlägt Nicola Gess vor, dass man Halbwahrheiten nicht nur mit einem Faktencheck, sondern auch mit einem sogenannten Fiktionscheck begegnen sollte.
Zunächst einmal sei es wichtig, überhaupt auf Halbwahrheiten und ihr Funktionieren aufmerksam zu werden. Und dann sei schon auch ein Faktencheck wichtig, der in Bezug auf die Halbwahrheit sozusagen die Spreu vom Weizen trennen. Aber das reiche eben nicht aus, weil Halbwahrheiten gerade nicht nach dem Code wahr/falsch funktionieren und darum gegen solche Widerlegungen häufig immun sind:
«Darum muss man sich auch ihre andere Seite, ihren fiktiven Teil sozusagen, genauer ansehen und ihn auf seine Verfahren und Motivationsgründe abklopfen. Nur so kann man sie entzaubern. Und so kann man auch ein Sensorium dafür entwickeln, wenn etwas zu rund, zu perfekt erzählt ist. Man sollte sich fragen: Kann es sein, dass es so einfach ist, oder ist es zu gut, um wahr zu sein? Und dann ist es natürlich auch so, dass die Konjunktur der Halbwahrheiten kein reines Diskursproblem ist. Am Ende muss man sich fragen: Was ist das für eine Gesellschaft, was sind das für Strukturen, die diese Konjunktur begünstigen?»
Quellen:
Halbwahrheiten – zur Manipulation von Wirklichkeit, von Nicola Gess, Matthes & Seitz Verlag Berlin, 2021.
Basler Professorin erklärt, warum Halbwahrheiten so gefährlich sind (bluewin)
Warum Halbwahrheiten gefährlicher sind als Lügen (Republik)
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