«False-Flag-Operationen» sind ein beliebtes Motiv in vielen Verschwörungstheorien.
Gemeint ist eine Aktion, bei der Provokationen oder Gewalttaten so inszeniert werden, dass der Eindruck erweckt wird, der Gegner hätte diese Taten begangen. Sie werden dem Gegner «in die Schuhe geschoben».
Historisch ist die False Flag Operation ein militärischer Begriff aus der Seefahrt. Schiffsflaggen dienen dazu, Schiffe zu identifizieren. Wer unter falscher Flagge fährt, führt nichts Gutes im Schilde. Es handelt sich um ein Täuschungsmanöver. Ein Schiff kann so seine wahre Identität verschleiern und dem Feind vormachen, ein Freund oder ein neutrales Schiff zu sein.
Unternehmen Tannenberg als False-Flag-Operation
Ein idealtypisches Beispiel einer False Flag Operation war das «Unternehmen Tannenberg». Dabei inszenierte die SS Überfälle von polnischer Seite auf grenznahe Einrichtungen in Oberschlesien am Vorabend des Kriegsbeginns 1939. Diese False-Flag-Operation diente als Vorwand für den Einmarsch der Wehrmacht in Polen.
Am bekanntesten ist der Überfall auf den Radiosender Gleiwitz in der Nähe der polnischen Grenze am 31. August 1939. Die SS-Männer, die den Überfall ausführten, erweckten dabei den Eindruck, sie seien polnische Freischärler. Nach der «Eroberung» des Senders wurde eine entsprechende Meldung ausgestrahlt:
«Achtung! Achtung! Hier ist Gleiwitz. Der Sender befindet sich in polnischer Hand […] Die Stunde der Freiheit ist gekommen!“ Die Sendung dauerte knapp vier Minuten und endete mit dem Aufruf: „Hoch lebe Polen!“
Die Meldung über den (vorgetäuschten) Überfall wurde über den Reichsrundfunk und die Presse verbreitet.
Die Vorfälle des «Unternehmens Tannenberg» dienten als propagandistischer Vorwand für den Überfall auf Polen, den Beginn des Zweiten Weltkrieges.
Adolf Hitler erwähnte Gleiwitz nicht direkt in seiner im Rundfunk ausgestrahlten Reichstagsrede am Vormittag des 1. Septembers:
„Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen. Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten.“
Das «Unternehmen Tannenberg» war also ein reale «False-Flag-Operation». Wenn Verschwörungstheoretiker einen Terroranschlag oder einen Amoklauf eine «False-Flag-Operation nennen, meinen sie damit, dass da etwas nicht so abläuft, wie es abzulaufen scheint. Es ist sehr einfach, irgendwelche Verdächtige für eine False-Flag-Operation zu nennen, wenn man dazu keinerlei Fakten liefert.
Jan Skudlarek unterscheidet in seinem lesenswerten Buch «Wahrheit und Verschwörung» zwei verschiedene Varianten des False-Flag-Arguments:
- Eine moderate Variante:
Ereignis X. ist geschehen, jedoch nicht so, wie die “offizielle Story” bzw. die Medien es darstellen.
- Eine radikale Variante:
Ereignis X. ist niemals geschehen. Alles, was wir in den Medien sehen oder lesen, ist eine Täuschung.
Zu 1. Die moderate Variante:
Ein Beispiel für diese Variante ist zu finden bei der «9/11-Truther-Bewegung». Diese Leute nennen sich «Truther», weil sie in ihrer Überzeugung auf der Seite der Wahrheit stehen. Sie sagen, dass die Anschläge vom 11. September ein «inside job» gewesen seien. Von der Bush-Regierung geplant und von ihren Handlangern ausgeführt, unter anderem um Gründe für den Irakkrieg zu haben. Ein ungeheuerlicher Massenmord an der eigenen Bevölkerung aus politischen Gründen. Eine schwächere Variante behauptet, dass die Regierung die Anschläge zwar nicht selber geplant und durchgeführt hat, aber präzis davon wusste und nichts unternahm, um sie zu verhindern.
Die Inside-Job-Variante wird unter anderen von Daniele Ganser insinuiert, der zwar immer wieder betont, dass er nur Fragen stelle, aber sich inzwischen offenbar auch darauf festgelegt hat, dass WT7 gesprengt worden sei (eine ganze Reihe von Belegen spricht gegen diese Behauptung. Details und Quellen dazu auf Wikipedia).
Daniele Ganser behauptete auch, die Anschläge auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo» könnten eine False-Flag-Operation westlicher Geheimdienste gewesen sein. Ebenso werden die Terroranschläge in Paris vom 13. November 2015 pauschal als fälschlicherweise dem IS (Islamischer Staat) zugeschriebene Taten bezeichnet. Obwohl es dazu ein Bekennerschreiben und zahlreiche Hinweise auf einen islamistisch motivierten Anschlag gibt.
Es ist sehr einfach, irgendwelche Verdächtige für eine False-Flag-Operation zu nennen, wenn man dazu keinerlei Fakten liefert. Verschwörungstheoretiker gehen dazu meistens nach dem «Cui bono?»-Prinzip vor: «Wem nützt es? Der ist es gewesen!»:
«Gemeint ist damit: Wer hätte ein Motiv für eine derartige Inszenierung? Die selbstgewisse Antwort des Verschwörungsanhängers im Fall des World Trade Centers: natürlich die USA selbst, insbesondere deren Rüstungsindustrie. Durch den Terroranschlag hatten diese einen Vorwand, um in Afghanistan und im Irak Krieg führen zu können.
Bei der Frage nach dem Motiv machen es sich Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker jedoch allzu leicht. Wäre die Antwort auf die Frage „Wer war es?“ immer so leicht, dann wären Mordfälle sehr einfach zu lösen und der „Tatort“ im Ersten ziemlich langweilig. Oft ist eben gerade nicht die oder der Verdächtige mit dem klarsten Motiv die Täterin oder der Täter. Und nur weil ich davon profitiere, dass meine Lehrerin kurz vor der Klausur krank geworden ist, heißt das nicht, dass ich sie vergiftet habe.»
Quelle: Warum Verschwörungstheorien nicht tot zu kriegen sind (BPB)
Zu 2. Die radikale Variante:
Ereignis X. ist also niemals geschehen. Alles, was wir in den Medien sehen oder lesen, ist eine Täuschung.
Ein eindrückliches und krasses Beispiel für diese radikale Variante zeigte sich nach dem Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School am 14. Dezember 2012 in Newton.
Insgesamt 20 Erstklässler im Alter von sechs und sieben Jahren sowie sechs Lehrer hatte der Attentäter Adam Lanza kurz vor Weihnachten an der Grundschule im amerikanischen Connecticut kaltblütig erschossen. Danach brachte er sich selbst um.
Zweifel am Ablauf der abscheulichen Tat gibt es nicht. Die Polizei, das FBI, die Staatsanwaltschaft haben den tragischen Fall bis ins kleinste Detail ermittelt und dokumentiert. Die Fakten liegen klar auf dem Tisch.
Aber Verschwörungsgläubige in den USA und in anderen Teilen der Welt (auch in der Schweiz) behaupten bis heute, das Sandy-Hook-Massaker sei nur „großes Theater“ gewesen, „ein bühnenreifer Auftritt bezahlter Schauspieler“ und eine Inszenierung der Regierung von US-Präsident Barack Obama, um striktere Gesetze umzusetzen und am Ende das Land zu entwaffnen. Bezahlte «Krisenschauspieler» seien bei solchen Massakern in Aktion. Ziel dieser False-Flag-Operation sei es, eine Verschärfung der Wafffengesetzgebung in den USA durchzusetzen.
Mehr dazu hier:
Sandy Hook Verschwörungsideologien
Auch zum Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin am 19. Dezember 2016 blühten bald danach Verschwörungstheorien. False-Flag-Unterstellungen spielten dabei eine wichtige Rolle (War alles inszeniert? Wurden wir alle belogen?). Die Plattform Mimikama hat dazu ein Faktchecking veröffentlicht:
Der Anschlag in Berlin – Wirre „False Flag“-Behauptungen
Es ist auch hier eindrücklich, wie einfach solche Verdächtigungen in die Welt gesetzt werden können, und wie aufwendig es ist, sie detailliert zu widerlegen, wie es Mimikama macht.
Bei Verschwörungstheoretikern werden solche Bemühungen allerdings kaum etwas bewirken. Steven Novella hat das in seinem Buch «Bedienungsanleitung für deinen Verstand» prägnant zusammengefasst:
«Angenommen, George Bush hat die Terroranschläge vom 11. September 2001 nur vorgetäuscht: Warum haben die Demokraten diese Verschwörung nicht aufgedeckt, als sie an der Macht waren? Vermutlich stecken sie mit den Republikanern unter einer Decke. Und weshalb hat die Presse dazu geschwiegen? Sicher auch sie ein Teil der Verschwörung. Was ist mit anderen Regierungen, von denen uns viele feindlich gesinnt sind? Dreimal dürfen sie raten…
Alle Probleme, die sich im Zusammenhang mit einer Verschwörung ergeben, werden dadurch gelöst, dass immer mehr Leute und Organisationen zum Teil des Komplotts erklärt werden. Der Weg zu der Überzeugung, dass eine weltweit operierende Schattenregierung alles kontrolliert, ist dann nicht mehr weit – die Illuminaten, Echsenmenschen, die neue Weltordnung und ähnliche gross angelegte Verschwörungen.»
Hitchen’s Rasiermesser
Grundsätzlich kann bei False Flag Argumenten jedoch auch Hitchen’s Rasiermesser zum Zug kommen: Was ohne Belege behauptet wird, kann auch ohne Belege verworfen werden.
Beide False-Flag-Varianten gründen auf dem subjektiven Eindruck, immer belogen und getäuscht zu werden. Unterschiedlich ist jeweils nur das Ausmass. Die Überzeugung, immer und überall über den echten und wahren Verlauf der Ereignisse getäuscht zu werden, gehört zu den fundamentalen Eigenschaften von wahren Verschwörungsgläubigen. Ihr Alltag ist durchdrungen von einer Verschwörungsmentalität.
Schaut man sich die radikale Variante des False-Flag-Arguments an, besteht es aus zwei Bestandteilen:
Erstens ist alles, was ich sehe, nicht echt, sondern inszeniert.
Zweitens wurde alles, was ich sehe, von jemandem inszeniert. Krisenschauspieler handeln wie echte Schauspieler nach einem Drehbuch und befolgen Regieanweisungen. Jemand steck also dahinter und zieht die Fäden, um die Täuschung herzustellen.
Aus diesem Grund sind solche False-Flag-Vorwürfe in der Regel Verschwörungstheorien.
Die Hintermänner mit bösen Absichten sind ein notwendiger Bestandteil des Schauspielvorwurfs.
Typische Merkmale echter False-Flag-Operationen
Gero Hümmler führt in seinem Buch «Verschwörungsmythen» vier typische Merkmale echter False-Flag-Operationen auf:
1. Damit bestmögliche Geheimhaltung gewährleistet ist, werden möglichst wenige und nur sehr zuverlässige Personen beteiligt.
Für die drei Überfälle der «Operation Tannenberg» schätzt Hümmler die Zahl der Mitwisser auf wenig mehr als 200. Fast alle gehörten der SS an.
Umfang und Komplexität von False-Flag-Operationen werden durch diesen Punkt beschränkt. Um 9/11 als False-Flag-Operation durchzuführen wären Tausende von Mitwirkenden und Mitwissern nötig gewesen. Nur schon in voll vermieteten Bürogebäuden eine grosse Anzahl von Sprengladungen für kontrollierte Sprengungen einzubauen, ohne dass das jemandem auffällt, ist hochgradig unplausibel.
2. Die Befehle kommen unmittelbar von der höchsten Stelle.
False-Flag-Operationen sind politisch heikle Angelegenheiten und anspruchsvoll in der Durchführung. Sowas wird nicht einfach von einem subalternen Beamten oder Offizier angeordnet. Das Vortäuschen von Überfällen als Kriegsgrund mit der «Operation Tannenberg» wurde von Adolf Hitler persönlich befohlen. Der Befehl ging an SS-Reichsführer Heinrich Himmler, der den Leiter des SD, Reinhard Heydrich, mit der Ausführung beauftragte.
3. Bei False-Flag-Operationen geht eigentlich immer etwas schief.
Die «Operation Tannenberg» verlief nur zum kleinen Teil nach Plan. Beim Sender Gleiwitz scheiterte die Radiodurchsage beinahe daran, dass das Mikrofon für Notfalldurchsagen nicht zu finden war.
Stellt man sich nun beispielsweise das Sandy-Hook-Massaker als False-Flag-Operation vor, wird deutlich, wie hochgradig unwahrscheinlich eine fehlerlose, erfolgreiche Inszenierung ist. Dazu wäre ein Super-Drehbuch nötig, das nicht nur die Schule und die Eltern umfasst, sondern auch die Polizei, die Ermittlungsorgane, die lokale Politik, die Justiz und die Medien. Ein solches Szenario müsste zudem geübt werden wie eine Theatervorstellung, was kaum verborgen bleiben könnte.
4. Am Ende bleiben offene Fragen.
Das ist ein allgemeines Problem bei unübersichtlichen, komplexen Vorgängen und nicht spezifisch für False-Flag-Operationen. Dokumente und Bildaufnahmen fehlen bei solchen Ereignissen oft oder sind unterschiedlich interpretierbar, Zeugenaussagen sind häufig widersprüchlich.
Fazit:
Echte False-Flag-Operationen sind höchst problematisch. Eingebildete False-Flag-Operationen aber auch. Es reicht nicht und ist zu billig, nur Verdächtigungen in den Raum zu stellen. Es braucht Belege.
Wichtige Quellen für dieses Kapitel:
Jan Skudlarek, «Wahrheit und Verschwörung»
Gero Hümmler, «Verschwörungsmythen»
Weitere Texte:
Rechte Verschwörungstheoretiker präsentieren Kapitol-Erstürmung als «False-Flag-Operation»