Falsche Gleichgewichtung (False Balance) ist ein Phänomen der Verzerrung in den Medien. Vornehmlich im Wissenschaftsjournalismus wird dabei einer klaren Minderheitenmeinung ungebührlich viel Raum gegeben. Dabei entsteht fälschlicherweise der Eindruck, Minderheitenmeinung und Konsensmeinung wären gleichwertig.
Die angeführten Argumente und Belege stehen dann oft in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Nachweisen der jeweiligen Seite. Und manchmal bleiben Informationen unberücksichtigt, die die Behauptung einer Partei als haltlos erscheinen lassen würden.
Falsche Gleichgewichtung lässt sich auch beobachten in der Berichterstattung über Verschwörungstheorien.
Zum Unterschied zwischen politischer und wissenschaftlicher Berichterstattung
In der politischen Berichterstattung ist Ausgewogenheit ein wichtiger Faktor. Die Politik steckt voller Meinungen und Werturteile. Zu jedem politischen Thema gibt es unterschiedliche Ansichten. Eine seriöse Berichterstattung sollte alle Seiten erwähnen, ohne dabei allerdings demokratiefeindlichen Positionen eine unnötig grosse Plattform zu geben.
Äussert eine bedeutende Person des öffentlichen Lebens etwas, das der Realität widerspricht, sollte das berichtet werden – aber nicht ohne Kontext. Und nicht ohne die notwendige Überprüfung der Fakten und die Vorlage von Belegen für das Gegenteil, um darzulegen, weshalb genau die Aussage nicht zutreffend ist. So dienen Ausgewogenheit und Fairness in der politischen Berichterstattung dem Gemeinwohl.
Der Wissenschaft geht es dagegen insbesondere um überprüfbare Fakten. Zwar mag es eine Reihe von wissenschaftlichen Stellungnahmen zu einem Thema geben, doch sind diese selten ausgewogen. Bei den meisten wissenschaftlichen Themen sind die Nachweise – und der wissenschaftliche Konsens – asymmetrisch und bevorzugen eine Lehrmeinung gegenüber anderen. Steven Novella erläutert das am Beispiel von Artikeln zum Klimawandel:
«Nehmen wir an, in einem Peer-Reviewed-Journal erscheint eine neue Studie, die belegt, dass das zurückliegende Jahr das wärmste in der Geschichte war. Eine Nachrichtensendung im Fernsehen möchte darüber berichten, doch die Redaktion steht vor einem Problem: Sollen sie nur den Autor der Studie in die Sendung einladen, um darüber zu sprechen, warum der Klimawandel so ein Problem darstellt und welche Schritte ergriffen werden könnten, um diese Effekte zu verringern? Diese Herangehensweise wäre sicherlich fair, denn sie würde unparteiischen evidenzbasierten Inhalt für das Publikum der Sendung liefern. Oder sollten die Produzenten den Studienautor einladen und einem Klimawandelskeptiker gegenüberstellen (den wir durchaus fair als «Klimawandelleugner» bezeichnen könnten), um die Sendezeit mit dem Abtausch von Argumenten darüber zu füllen, ob es die globale Erwärmung überhaupt gibt oder nicht. Dieser Ansatz mag ausgewogener erscheinen, ist aber weder fair noch wissenschaftlich haltbar.
Dennoch entscheiden sich professionelle Nachrichtenunternehmer immer wieder genau dafür. Sie tappen in die Falle der falschen Ausgewogenheit und berichten in gleichem Umfang über die Seiten einer Geschichte, obwohl diese eindeutig nicht gleichermassen glaubwürdig sind.»
Die grosse Mehrheit von Wissenschaftlern aus der Klimatologie geht übereinstimmend davon aus, dass die menschengemachte Klimaerwärmung stattfindet und überwiegend negative Folgen hat. Es handelt sich um eine Mehrheit von 97 – 98 Prozent. John Oliver illustrierte dieses Situation in seiner wöchentlichen Comedy-Sendung Last Week Tonight, indem er 97 Klimawissenschaftler vor die Kamera holte, wo sie einen einsamen Klimawandelleugner in Grund und Boden argumentierten. Das ist ein extremes Beispiel, das so wohl nur in einer Comedy-Show möglich ist, aber so wird «Falsche Gleichgewichtung» vermieden.
Wann redet man von False balance / Falsche Gleichgewichtung?
Der MDR hat ein Interview veröffentlicht mit Sven Engesser, Professor für Wissenschafts- und Technikkommunikation. Darin wird das Thema False Balance / Falsche Gleichgewichtung praxisnäher auf den Journalismus bezogen besprochen.
Sven Engesser hat sich in einer Studie mit dem Thema „false balance / Falsche Gleichgewichtung“ im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Klimawandel beschäftigt.
Bei False Balance gehe es darum, dass Journalisten versuchen, die Wahrheit abzubilden. Dazu bediene man sich verschiedener Hilfskonstruktionen, wie der Gleichgewichtung von Meinungen, also Pro- und Contra-Argumente gleichberechtigt darstellen, um die Realität gut abzubilden. Das funktioniere in der politischen Berichterstattung in den USA gut, da es dort oft zwischen Republikanern und Demokraten zwei Meinungen gebe.
Schwierig werde das jedoch bei der Wissenschaftsberichterstattung, denn da gehe es um Fakten:
«Man hat die wissenschaftlich etablierte Faktenlage und der Journalismus sucht noch jemanden, der dagegen ist. Dadurch entsteht der Eindruck, beide Positionen seien gleichwertig. Gängigstes Beispiel ist der Klimawandel: Etwa 97 Prozent der Wissenschaftler und der Fachzeitschriftenaufsätze vertreten die Auffassung, dass der Klimawandel so stattfindet, wie das der Weltklimarat sagt. Aber trotzdem kommen immer wieder Klimaskeptiker zu Wort. Und dadurch entsteht der Eindruck, die Verteilung wäre 50 zu 50, obwohl sie in Wirklichkeit 97 zu 3 ist.»
Das Problem dabei sei die Vermischung von Fakten und Meinung, die gleichgesetzt und zur Diskussion gestellt werden.
Was ist zu beachten, wenn journalistisch über wissenschaftliche Resultate gesprochen werden soll?
Sven Engesser sagt dazu:
«Die Wissenschaft verzichtet weitgehend auf subjektive Meinung. Also wenn man eine Studie veröffentlicht, ist es meistens nicht von Belang, was man persönlich dazu denkt. Den Journalismus interessiert das aber durchaus und auch, welche gesellschaftlichen Meinungen es dazu gibt – und das ist auch wichtig für die Demokratie. Das muss der Journalismus auch tun, aber er muss Fakten und Meinung trennen. Er muss das vor allem bei Themen tun, bei denen die Faktenlage immer wieder diskutiert wird, die Faktenlage unbekannt ist oder nicht akzeptiert wird.»
Das Problem sei die Vermischung von Fakten und Meinung. Wenn man am Anfang eines Artikels oder in einem Info-Kasten die Fakten präsentiert, dann sei das nicht problematisch. Weil dann jeder sieht:
«Das ist die Faktenlage und dann kann man auch über die Meinung diskutieren und einen Impfkritiker zu Wort kommen lassen – einige Leute haben ja diese Auffassungen. Man braucht jedoch die klare Trennung von Fakten und Meinung und eine aktive Einordnung und Bewertung der Meinung durch die Journalisten.»
Ein Titel wie: «Klimawandel – ja oder nein? Daran scheiden sich die Geister» impliziert, es gibt zwei Meinungen und die werden, wenn man nichts Näheres darüber weiß, erst einmal als gleichberechtigt wahrgenommen.
Für den Wissenschaftsjournalismus gilt: Die Wahrheit liegt nicht irgendwo in der Mitte
Der Dokumentarfilmer Dirk Steffens spricht in einem lesenswerten Interview mit der Wissenschaftszeitschrift «Spektrum» über Aspekte der «False Balance / Falsche Gleichgewichtung».
Er hält es für einen journalistischen Kernfehler zu glauben, man müsse auch abseitigen Ansichten eine Plattform bieten. Das schaffe den Eindruck, dass der Unsinn eine Berechtigung habe. Steffens ist überzeugt davon, dass die Medien dazu beigetragen haben, unsinnige und gefährliche Anschauungen zu verbreiten:
«Was die Medien falsch gemacht haben, kann man gut an vergangenen Diskussionen um die Klimakrise aufzeigen. Ich habe selbst bis vor wenigen Jahren als Gast in Talkshows erlebt, dass Journalistinnen und Journalisten von »abweichenden wissenschaftlichen Meinungen« zum Thema menschengemachter Klimawandel sprachen. Wie im Politikjournalismus glaubte man, das gesamte Spektrum abbilden zu müssen und die Wahrheit irgendwo in der Mitte zu finden. Aber für die Wissenschaft gilt: Die Wahrheit liegt allein in der Wahrheit. Es kommt nur Unsinn dabei heraus, wenn man die Mitte sucht zwischen einer kugelförmigen und einer scheibenförmigen Erde.»
Steffens geht auch darauf ein, welche Anschauungen durch «Falsche Gleichgewichtung» unnötigerweise verbreitet werden, und warum sie gefährlich sind. Man sollte meinen, dass Esoterikgläubige, Verschwörungstheoretiker und Nazis nichts miteinander zu tun haben, stellt er fest: «Doch was sie verbindet, ist der Zweifel an allgemein akzeptierten Wahrheiten, an Institutionen und Behörden, an Politik und Medien. Deshalb ist es zwar kurios, aber auch nicht erstaunlich, dass sie gemeinsam demonstrieren. Was sie letztlich zum Ausdruck bringen wollen: Dieses System betrügt uns, wir wollen es abschaffen. Für alles haben sie dasselbe Erklärungsmuster. Sie weisen einer bestimmten Gruppe kollektiv die Schuld zu: der Regierung, den Behörden, Reichen, Eliten, Moslems oder Juden. Darin liegt das verbindende Element von Verschwörungstheorien und totalitären Weltanschauungen, und deshalb sind sie gefährlich.»
Quellen:
Wie sollten Medien mit Verschwörungstheorien umgehen (Spektrum)
Beitrag zum Stichwort «Falsche Gewichtung» auf Wikipedia
Wissenschaft und Journalismus: Warum man Fakten und Meinung trennen sollte (MDR)
„Bedienungsanleitung für deinen Verstand“, von Steven Novella (Buchtipp)
Ausserdem:
Zum Unterschied zwischen Fakten und Meinungen:
Triumph der Meinung über Fakten, Wahrheit und Fachwissen – das kann nicht gut gehen!