Ein wichtiger Ausgangspunkt für Verschwörungstheorien sind Ungereimtheiten, Unerklärtes und Widersprüchliches in offiziellen Erklärungen von Ereignissen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von «errant data».
Verschwörungstheorien erheben den Anspruch, der offiziellen Version überlegen zu sein, weil sie glauben, derartige Widersprüche und Ungereimtheiten im Gegensatz zur offiziellen Version erklären zu können.
Michael Butter schreibt in seinem Buch «Nichts ist, wie es scheint»:
«Naturwissenschaftler wissen, dass selbst bei Experimenten im Labor immer wieder Dinge geschehen, die nicht geschehen sollten, die man aber getrost ignorieren kann, wenn genug andere Faktoren in eine bestimmte Richtung weisen. Für Verschwörungstheoretiker werden aber gerade diese ‘errant data’ zum Ausgangspunkt ihrer Argumentation. Weil in ihrem Weltbild kein Platz für Zufälle und Widersprüche ist, muss etwas anderes hinter den Inkongruenzen stecken.»
Michael Butter illustriert die Bedeutung von ‘errant data’ mit einem Beispiel im Kontext von 9/11:
«So kann die offizielle Version nicht schlüssig erklären, warum der Pass von Satam al-Suqami, einem der Attentäter des 11. September 2001, auf einem Bürgersteig in der Nähe des World Trade Centers gefunden wurde, obwohl sonst fast alles, was sich an Bord der Flugzeuge befand, beim Einschlag zerstört wurde. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies passieren konnte, ist unglaublich gering; es gibt keine schlüssige Erklärung dafür – es sein denn, man argumentiert verschwörungstheoretisch. Dann wurde der Pass von Verschwörern gezielt auf dem Bürgersteig platziert, um den Verdacht schnell auf islamistische Terroristen zu lenken. Der Fund des Passes ist also nicht etwa nur eine Aberration der Realität, die man ignorieren sollte, und schon gar kein Beweis für die offizielle Version, sondern das Gegenteil: ein starker Beweis dafür, dass die offizielle Version nicht stimmt.»
Quelle:
«Nichts ist, wie es scheint – über Verschwörungstheorien», von Michael Butter, Suhrkamp 2018 (Seiten 78/79)
Ergänzend zum Thema «errant data»:
☛ Die Konzentration auf «errant data» – also auf Angaben, die der offiziellen Erklärung des Geschehens entweder widersprechen oder in ihr nicht vorkommen – ist charakteristisch für viele Verschwörungstheorien, die immer eine einzige, schlüssige Erklärung für sämtliche Informationen zu dem zu erklärenden Fall liefern.
Für diese Engführung der Argumentation und Vereinheitlichungsleistung zahlen Verschwörungstheorien einen hohen Preis. Es braucht oft eine ganze Reihe von Hilfskonstruktionen, um die behaupteten Zusammenhänge scheinbar zu belegen. Dadurch bekommen Verschwörungstheorien eine Tendenz zur Ausweitung. Die angenommenen Vertuschungsmassnahmen und Desinformationskampagnen setzen eine grosse Anzahl an Mitwissenden voraus. Diese grosse Zahl an Mitverschwörern, die dazu vorausgesetzt werden muss, macht die Verschwörungstheorie aber unglaubwürdig, denn einer redet immer (Siehe dazu den «Beweis des Schweigens» von Umberto Eco).
Schlussendlich führt diese Fixierung auf «errant data» zu einer radikalen, nachgerade nihilistischen Skepsis und zu toxischem Misstrauen gegenüber allem gesellschaftlich vermittelten Wissen: Der Regierung, der Wissenschaft und allen Medien wird unterstellt, dass sie uns betrügen und Teil der Verschwörung sind. Diese Grundannahme ist in ihrer undifferenzierten Pauschalisierung nicht plausibel. Die Annahme, dass keine Erklärung alle Nebenaspekte eines Geschehens irrtumslos und vollständig abdecken kann, ist viel realitätsnäher. Nicht nur in den Naturwissenschaften, auch in den Sozialwissenschaften gibt es immer «errant data» – menschliche Angelegenheiten lassen sich nicht bis ins letzte Detail klären.
☛ Der Pass des Attentäters Satam al-Suqami als Beispiel für «errant data» wird kontinuierlich bewirtschaftet vom Publizisten Daniele Ganser. Mehr dazu hier:
9/11: Daniele Ganser und der gefundene Pass des Attentäters
☛ Verwandt mit dem Thema der Suche nach «errant data» ist die Suche nach Anomalien. Siehe dazu:
Anomalien suchen / anomaly hunting
☛ Verschwörungsgläubige halten «errant data» wie Ungereimtheiten, Unerklärtes und Widersprüchliches nur schwer aus. Verschwörungstheorien sollen dazu entlastende Erklärungen liefern. Als Gegenmittel wäre wohl sinnvoll die Förderung von Ambiquitätstoleranz. Siehe dazu:
Demokratie braucht Ambiguitätstoleranz – Verschwörungstheorien meiden sie
Ambiquitätstoleranz ist allerdings kein Heilmittel für alle Fälle. Es gibt auch Widersprüche, die geklärt und nicht einfach stehen gelassen werden müssen.