Der Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 in Paris war ein islamistisch motivierter Terroranschlag. Zwei maskierte Täter drangen in die Redaktionsräume der Zeitschrift ein, töteten elf Personen (darunter einen zum Personenschutz abgestellten Polizisten), verletzten mehrere Anwesende und ermordeten auf ihrer Flucht einen zweiten Polizisten. Am 9. Januar verschanzten sie sich in Dammartin-en-Goële; beide Täter wurden von Sicherheitskräften erschossen. Vorher hatte sich einer der Täter in einem Telefongespräch zu Al-Qaida im Jemen bekannt.
Ein weiterer schwerbewaffneter Täter erschoss am 8. Januar im Süden von Paris eine Polizistin. Am Tag darauf überfiel er den Supermarkt Hyper Cacher für koschere Waren im Pariser Osten, tötete vier Menschen und nahm weitere als Geiseln. Er bekannte sich telefonisch zum Islamischen Staat und erklärte, sein Vorgehen stehe in Verbindung mit dem Anschlag auf Charlie Hebdo. Bei der Erstürmung des Supermarktes durch die Sicherheitskräfte wurde er erschossen.
Ein Pariser Gericht verurteilte im Dezember 2020 mehrere Angeklagte wegen Beihilfe zu hohen Haftstrafen. Der Hauptbeschuldigte Ali Riza Polat wurde der Beihilfe zu Verbrechen mit Terrorhintergrund für schuldig befunden und erhielt eine Haftstrafe von 30 Jahren.
Die Zeitschrift Charlie Hebdo wurde zum Ziel, weil die Redaktion Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hatte. Der Anschlag auf den jüdischen Supermarkt hatte einen antisemitischen Hintergrund.
Aktivitäten der Verschwörungstheoretiker nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo
Kaum hatten die Täter nach dem Blutbad auf der Redaktion der Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» ihr Fluchtfahrzeug bestiegen, fluteten die Verschwörungstheoretiker das Netz mit ihren Spekulationen. Und noch bevor genauer bekannt war, was im 11. Arrondissement der französischen Hauptstadt geschehen war, glaubten die ersten Verschwörungstheoretiker schon Bescheid zu wissen. Es macht fast den Anschein, dass sie auf solche Ereignisse fiebrig warten. Schliesslich bieten schnelle «Analysen» in solchen Situationen viel Aufmerksamkeit und Reichweite.
Das offensichtlichste – die Täter sind Islamisten – kommt für Verschwörungstheoretiker nicht in Frage, denn für sie ist nichts, wie es scheint. Um schnell und ohne grossen Aufwand die Hintermänner benennen zu können, greifen Verschwörungstheoretiker gern auf den Cui-bono-Trick zurück. «Cui bono?» bedeutet «wem nützt es?». Und der Cui-bono-Trick sagt aus: Wem es nützt, der ist es gewesen! Weil fast jedes Ereignis einen oder mehrere Nutzniesser hat, ist es auf diese Art und Weise leicht, scheinbare Hintermänner zu bezeichnen. Und naheliegend ist es, diese Stelle des Bösewichts mit dem jeweiligen Lieblingsfeind zu besetzen. Bevorzugte Kandidaten bei Verschwörungstheoretikern im Falle eines Terroranschlages: Westliche Geheimdienste, in erster Linie die CIA oder der Mossad.
Kein Terroranschlag, ohne dass irgend jemand die CIA am Werk sieht. Und weil für Verschwörungstheoretiker alles mit allem verbunden ist, lässt sich immer ein Zusammenhang finden. Manche vermuten beim Anschlag auf Charlie Hebdo eine Strafaktion der Amerikaner, weil der französische Präsident François Hollande keine schärferen Sanktionen gegen Russland ergreifen wollte.
Andere glauben, dass die CIA generell den Hass auf den Islam schüren will, um neuen militärischen Interventionen im Nahen Osten den Boden zu bereiten. Cui bono? So einfach.
Oder doch eher der Mossad?
Der israelische Geheimdienst ist ein unverzichtbarer Bestandteil zahlloser Verschwörungstheorien. Das passt auch hier: Der lange Arm Israels habe diese False-Flag-Operation durchgeführt, um Frankreich für die Anerkennung Palästinas zu bestrafen.
Der Fantasie sind jedenfalls keine Grenzen gesetzt.
Bald nach dem Attentat auf Charlie Hebdo tauchten auch die ersten «Ungereimtheiten» auf – Futter für all die Verschwörungstheoretiker, die hinter jedem Geschehen eine versteckte Wahrheit wittern. Es begann die für Verschwörungstheoretiker typische Suche nach Anomalien (anomaly hunting).
Im Fluchtauto fand die Polizei den Ausweis von Said Kouachi, einem der beiden Attentäter beim Überfall auf die Redaktion. Ken Jebsen, den ehemaligen deutschen Radiomoderator, der auf seien Kanälen eine geladene Portion Demagogie verbreitet und extrem anti-israelische und verschwörungstheoretische Positionen vertritt, erinnerte der gefundene Ausweis an die Anschläge vom 11. September 2001: «Ähnlich wie bei 9/11 hatte die Polizei wieder echtes Glück. Einer der Attentäter verlor seinen Ausweis! Diesmal im Fluchtwagen! Wer nimmt seinen Personalausweis mit, wenn er plant Menschen im grossen Stil zu erschiessen?» Geschickte Formulierung. Damit behauptet er nichts Konkretes, aber er unterstellt unmissverständlich, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Es gibt aber eine ziemlich plausible Erklärung: Der Attentäter hat mit seinem Tod gerechnet. Um einen Heldenstatus zu erlangen und sicherzustellen, dass Al-Qaida für seine Angehörigen sorgt, muss er seine Identität klarstellen.
Manchmal helfen Verschwörungsgläubige auch ein bisschen nach, wie das Online-Magazin «Watson» berichtet:
«Auf einer täuschend echt aussehenden BBC-Seite und einem gefälschten BBC-Youtube-Kanal verbreitete eine unbekannte Täterschaft die Nachricht, es gebe Zweifel an der Echtheit des Videos, das die kaltblütige Ermordung des Polizisten Ahmed Merabet zeigt.
Der Artikel auf der gefälschten BBC-Seite, die mittlerweile nicht mehr online ist, sollte der Behauptung einen seriösen Anstrich verleihen, es habe sich bei dem Anschlag um eine verdeckte Operation westlicher Geheimdienste gehandelt.
Das Massaker in Paris als False-Flag-Operation – das ist eine beliebte Verschwörungstheorie. Und nicht die einzige.»
Inzwischen sind einige Jahre ins Land gezogen seit dem Attentat auf «Charlie Hebdo». Die Verschwörungspropheten haben seither nicht den Hauch eines Belegs für ihre Spekulationen erbracht. Das interessiert sie offenbar gar nicht. Investigative Recherche und fundierte Kritik sind nicht ihr Geschäftsmodell. Das säen von Zweifel und toxischem Misstrauen ist ihr Geschäftsmodell. Und dazu warten sie schon fiebrig auf den nächsten Terroranschlag.
Ein Autor namens John Wu hat dieses Geschäftsmodell auf «Emma & Fritz» treffend beschrieben:
«Die ständige Indoktrination, dass hinter allem eine verborgene Wahrheit liegt, erzeugt beim (vermutlich politisch eher ungebildeten, aber neugierigen) Zuhörer Angst und Ohnmachtsgefühle. Die permanente Nichtanerkennung von realen und politischen Vorgängen und das Umdeuten des Weltgeschehens ist eben alles andere als fundierte Kritik an Staat, Medien und Gesellschaft. Sie schürt stattdessen irrationales Misstrauen und bewirkt das Gegenteil von politischem oder gesellschaftlichem Engagement beim Zuhörer.
Wer einmal davon infiziert ist, wird der Welt gegenüber misstrauisch, nimmt nicht mehr aktiv teil, sondern schottet sich ab, wird passiv. Dort im Stillen wartet er dann auf die nächste große Verkündung „hintergründiger“ Informationen des selbsternannten Propheten. Oder, noch schlimmer, er wird zur unkritischen Manövriermasse gewissenloser Demagogen.»
Was würde Machiavelli dazu sagen?
Der italienische Staatsmann Niccolò Machiavelli (1469 – 1527) hat in seinem Werk interessante Gedanken geäussert zu Verschwörungen. Er hat die Schwierigkeiten auf den Punkt gebracht, die einer erfolgreichen Verschwörung entgegenstehen.
Er schrieb dazu:
„Das einzige Mittel, der Entdeckung zu entgehen, ist es, den Mitverschwörern keine Zeit zu lassen, das Komplott zu verraten.“
„Vor der Entdeckung einer Verschwörung kann man sich nicht schützen, wenn die Anzahl der Mitwisser drei oder vier übersteigt.“
Wäre das Attentat auf Charlie Hebdo eine False-Flag-Organisation von Geheimdiensten gewesen, hätte es dazu eine sehr grosse Zahl von Eingeweihten gebraucht. Es ginge dann nicht nur um ein paar Täter und Mittäter, sondern auch um die Ermittlungsdienste, die das Attentat akribisch aufgearbeitet haben und um das Gericht, das die Mittäter verurteilte. Unvorstellbar, dass bei dieser grossen Zahl von nötigen Mitwissern alle bis heute dichthalten, niemand den Medien handfeste Belege steckt, niemand sich verplappert oder sonst einen Fehler macht. Aber Verschwörungstheoretiker fantasieren sich Geheimdienste offenbar gern allmächtig und perfekt. Die Realität sieht anders aus.
Verwendete Quellen:
Beitrag zum Thema «Anschlag auf Charlie Hebdo» auf Wikipedia.
Das sind die populärsten Verschwörungstheorien zu Charlie Hebdo (Watson)
Die Umdeutung von Terror – KenFM, #CharlieHebdo und Verschwörungstheorien (John Wu auf Emma & Fritz)
Machiavelli über Verschwörungen und ihre Grenzen
Dieses YouTube-Video bringt einen Faktencheck zu Charlie Hebdo-Verschwörungstheorien: