Verschwörungsgläubige huldigen gerne dem Prinzip der Beschreibungsbeliebigkeit. Der Philosoph Jan Skudlarek (2019) beschreibt dieses Phänomen folgendermassen:
«Sollte dir die offizielle Erklärung eines Geschehnisses nicht gefallen, nimm dir eine Alternative aus dem Erklärungsregal. Gefällt dir die Beschreibung ‘ Durch die Globalisierung entstandene Probleme führen zu nachvollziehbaren globalen Migrationsbewegungen’ als Erklärung für das Phänomen flüchtender und vertriebener Menschen nicht, kannst Du dich für die Beschreibung ‘Eine politische Elite will uns zu ihrem Vorteil umvolken’ entscheiden.»
Wäre das Prinzip der Beschreibungsbeliebigkeit für unser Denken massgebend, könnte diese vor allem in rechtsextremen Kreisen bewirtschaftete Verschwörungstheorie vom «Grossen Austausch» als gleichwertige Erklärung gelten. Doch die Geschichte vom «Grossen Austausch» bringt zwar wie viele Verschwörungstheorien eine Komplexitätsreduktion. Sie passt aber nicht ansatzweise auf die Wirklichkeit.
Manche Beschreibungen passen besser als andere und sind damit sozusagen wahrer. Die Wirklichkeit kann nicht einfach als Selbstbedienungsladen benutzt werden.
Beschreibungsbeliebigkeit ist kein tragfähiges Prinzip
Es ist nicht gleichgültig, welche Erzählungen und Erklärungen man glaubt und welche man selbst weitererzählt. Jan Skudlarek schreibt dazu:
«Die Erzählung ‘Es gibt einen Klimawandel und menschliches Verhalten ist diesbezüglich ein bestimmender Faktor’ ist der Erzählung ‘Es gibt keinen Klimawandel oder falls doch, sind menschliche Einflüsse nicht nachgewiesen’ überlegen. Die eine ist besser, die andere schlechter.»
Weshalb die eine besser ist als die andere erklärt Skudlarek so:
«Weil die eine sich auf gesicherte wissenschaftliche Deutungen der Wirklichkeit stützt und viele Anhänger aufseiten der Experten hat, also jener Menschen, die sich fachlich besonders gut auskennen. Die Gegenerzählung ist unterlegen, weil sie im Grossen und Ganzen nicht auf nachvollziehbaren Fakten, sondern auf Spekulation und Ressentiments basiert.»
Jeder darf seine Meinung äussern, aber nicht jede Meinung hat gleich viel Autorität
Die Ablehnung von Beschreibungsbeliebigkeit basiert also auf guten Gründen. Gleichzeitig wendet sie sich nicht gegen den Meinungspluralismus. Denn selbstverständlich darf jeder Mensch seine Meinung äussern. Wir haben jedoch gute Gründe, den einen Meinungen mehr zu glauben und zu trauen als anderen. Meinungspluralismus bedeutet keineswegs, dass alle bezüglich aller Themen dieselbe Autorität besitzen. Autorität kommt jenen Fachleuten zu, die in ihrem Bereich etwas von anderen Expertinnen und Experten Anerkanntes geleistet haben, so dass sie möglichst vielen als Personen gelten, die ihr Fachgebiet besonders gut verstehen – und dieses Fachwissen auch einem Laienpublikum inhaltlich vermitteln können.
Die Ablehnung der Beschreibungsbeliebigkeit ist verbunden mit einer Ablehnung der Glaubwürdigkeitsbeliebigkeit.
Skudlarek schreibt dazu:
«Eine Einstellung nach dem Motto ‘ Ich glaube einfach allen gleich viel’ ist nicht nur kaum umsetzbar und deshalb unglaubwürdig, sondern sogar gefährlich.»
Wirklichkeitsbeschreibungen sind nicht beliebig austauschbar
Wirklichkeitsbeschreibungen sind nicht nach Belieben austauschbar, weil sie möglichst gut auf die Wirklichkeit passen sollen.
Um ein Beispiel aus dem Kontext der Verschwörungstheorien anzuführen: Entweder wurde Prinzessin Diana ermordet – oder nicht. Nur eine dieser Wirklichkeitsbeschreibungen kann passen. Und welche das ist, entscheidet nicht jeder für sich. Idealerweise entscheidet das eine Gesellschaft unter Beachtung aller Argumente und unter Beobachtung von allem Möglichen, etwa von dem, was wir für die Wirklichkeit halten.
Skudlarek schreibt dazu, man könne es nicht genug unterstreichen, dass der Glaube an eine zumindest im Prinzip erreichbare Wahrheit das Fundament des Sozialen ist:
«Totale Erosion des Wahrheitsglaubens, antifaktisches Denken und eine Privatisierung jeglicher Wahrheit – keine Gesellschaft könnte so überstehen. Wenn wir uns schon nicht auf eine Wahrheit einigen können (sei es bezüglich Flugzeugkondensstreifen, Erderwärmung oder kultureller Integration), dann doch bitte immerhin darauf, dass wir eine Annäherung an die Wahrheit versuchen sollten und dass es möglich ist, die Wirklichkeit angemessen, nachvollziehbar und plausibel zu beschreiben. Und zwar für uns alle. Damit einher geht auch der Glaube, dass Verschwörungstheorien zwar Versuche sind, die Wirklichkeit zu beschreiben, dass sie jedoch schlechte, schädliche Versuche sind. Der Glaube an die Erkennbarkeit einer gemeinsamen Wahrheit für die Welt, in der wir gemeinsam leben, bildet den Zement einer freiheitlichen Gesellschaft. Verschwörungstheorien lassen diesen Zement bröckeln.»
Während der Glaube an die Erkennbarkeit einer gemeinsamen Wahrnehmung der Welt die Menschen verbindet, führen die Privatisierung der Wahrheit, antifaktisches Denken und Beschreibungsbeliebigkeit zur Trennung. Gemeinsam Probleme zu beschreiben und gemeinsam Lösungen zu entwickeln wird dadurch weitgehend verunmöglicht. «Wer die Möglichkeit angemessener, plausibler Erkenntnis bestreitet, vereitelt die Möglichkeit richtigen Handelns – und gefährdet so den Zusammenhalt seiner Gesellschaft», schreibt Skudlarek.
Quelle:
Wahrheit und Verschwörung, von Jan Skudlarek, Reclam 2019
Ergänzend zum Thema „Beschreibungsbeliebigkeit“:
☛ Verwandt mit dem hier behandelten Thema ist das Phänomen der «Truthiness»: Wahr ist, was sich (für mich) wahr anfühlt.
☛ Siehe auch zum Thema:
Triumph der Meinung über Fakten, Wahrheit und Fachwissen – das kann nicht gut gehen!