Blinde Autoritätsaversion ist genauso fragwürdig wie blinde Autoritätshörigkeit. Wer automatisch das Gegenteil sagt zum angeblichen «Mainstream» oder zum wissenschaftlichen Konsens, hat damit nicht auch automatisch Recht. Es könnte gut sein, dass er oder sie einfach falsch liegt.
Man muss gute Argumente liefern, um etabliertes Wissen in Frage zu stellen. Behauptungen allein reichen dazu nicht aus.
Autoritätsaversion lässt sich immer wieder beobachten im Bereich der Verschwörungstheorien.
Da bestreiten zum Beispiel ein Fitnesscoach und ein Vegan-Koch ohne jede Selbstzweifel die Zahlen und Stellungnahmen des Robert-Koch-Instituts zur Corona-Pandemie. Hier dürfte auch der Dunning-Kruger-Effekt mitwirken. Er besagt, dass inkompetente Menschen ihre Kompetenz in der Regel überschätzen.
Experten als Fachleute anerkennen
Laien sollten zwar gegenüber Expertinnen und Experten nicht blindgläubig sein. Sie sollten aber auch die überlegene Expertise der Fachleute anerkennen. Das fällt jedoch Leuten schwer, die ein grösseres Mass an Autoritätsaversion haben.
Zur Autoritätsaversion hat sich Thomas Knecht geäussert, ein Amok-Experte und leitender Arzt der Zentralen Psychiatrischen Gutachenstelle in Münsterlingen TG:
«Es werden immer mehr Personen auffällig, die eine behördenkritische Auffassung aufweisen.»
Diese Personen hätten sich von den Gesellschaftsstrukturen entfremdet, sagt Knecht im Tages-Anzeiger: «Sie lehnen staatliche Institutionen ab und reagieren auf Forderungen jener mit Wut und Aggressionen. Das geht hin bis zu Vergeltungsaktionen.»
Der Psychiater erklärt sich das einerseits mit einer «Autoritätsaversion»: «Diese Personen möchten sich keinesfalls unterlegen fühlen.» Andererseits könne es jedoch auch gekränkter Narzissmus sein: «Sie sind empört, wollen es dem Staat heimzahlen und sich selbst ein Denkmal setzen.»
Gegenabhängigkeit und Autoritätsaversion
Ein der Autoritätsaversion ähnliches Phänomen lässt sich in der Gruppendynamik als «Gegenabhängigkeit» beschreiben. Wikipedia beschreibt es so:
«Gegenabhängigkeit bezeichnet in der Psychologie eine Form von subjektiv psychischer Abhängigkeit: Aus dem Bedürfnis eines Individuums, einer Gruppe oder auch einer sozialen Bewegung resultiert die abhängige Gegenreaktion – wie beispielsweise Trotz, Rebellion, parentifizierte Anmaßung etc.»
Mit anderen Worten: Es gibt Menschen, die machen fraglos alles, was der Leiter sagt oder fordert. Das sind die Abhängigen. Und es gibt Leute, die machen fraglos immer das Gegenteil von dem, was der Leiter sagt oder fordert. Das sind die Gegenabhängigen. Diese scheinbaren Rebellen sind aber nicht frei. Sie sind nicht frei in ihrer Entscheidung.
So sind auch autoritätsaverse Menschen kaum frei in ihren Äusserungen und Handlungen in Bezug auf Autoritäten. Sie müssen widersprechen und eine Gegenposition einnehmen. Viele Menschen kennen dieses Phänomen aus der Pubertät.
Autoritätsversion auch bei Experten
Autoritätsaversion zeigt sich nicht nur bei Laien gegenüber Fachleuten. Es gibt auch «rebellische» Expertinnen und Experten mit fragwürdiger Motivation – zum Beispiel in Medizin oder Wissenschaft.
Auch dazu liefert die Coronakrise Beispiele wie den pensionierten Lungenarzt Wolfgang Wodarg oder die Molekularbiologin Judy Mikovits.
Dazu ist festzuhalten:
- Auch Mediziner und Wissenschaftler sind nicht davor geschützt, ins Abseits zu geraten und sich argumentativ zu verrennen. Autoritätsaversion kann dabei eine Rolle spielen.
- Dissens und Kritik gehören zur Wissenschaft. Wenn sie wissenschaftlich ernst genommen werden wollen, finden sie aber in Fachjournalen statt und halten sich an wissenschaftliche Standards (zum Beispiel bezüglich Belege). Wenden sich Wissenschaftler mit Dissens und Kritik ausschliesslich via YouTube-Videos ans Publikum, werden sie zu Recht wissenschaftlich nicht beachtet.
- Ärzte, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind nicht in jeden Bereich, zu dem sie sich äussern, auch Experten. Wissenschaft ist heute sehr spezialisiert. Wenn der pensionierte Lungenarzt Wolfgang Wodarg lange Interviews über Covid-19 gibt, ist es fraglich, ob er überhaupt an irgendeinem Punkt aktuelle fachliche Expertise dazu hat. Wenn die Sonntagszeitung den emeritierten Immunologie-Professor Beda Stadler zu verschiedensten Aspekten der Pandemie befragt, fallen ein kleiner Teil der Antworten wirklich ins Fachgebiet des Interviewten, zum Beispiel wenn es um Impfungen geht. Massnahmen gegen die Ausbreitung des Virus gehören dagegen in die Fachgebiete Epidemiologie und Virologie. Und auch bei einer Mikrobiologin wie Judy Mikovits müsste zuerst geklärt werden, woran sie eigentlich forscht, bevor nachvollziehbar ist, für welche Fragen sie kompetente Antworten liefern kann.
- Bieten sich Mediziner und Wissenschaftler in den Medien oder auf Plattformen wie Facebook und YouTube als «alternative» Experten an, sollte auf ihre Rhetorik geachtet werden. Verwenden sie übermässig Entlarvungsvokabular? Inszenieren sie sich als Wahrheitsenthüller? Als Kämpfer für die Meinungsfreiheit? Als Opfer von Unterdrückung (Opfermentalität / Selbstviktimisierung)? Spielen Diffamierungen eine Rolle? Kommen solche Ausdrücke und Verhaltensweisen gehäufter vor, ist Skepsis angebracht. Als Extremvariante trifft man auf Sprüche wie: «Schon Galilei wurde mit seiner Meinung verfolgt!»
- Warum kommt es zur Autoritätsaversion? Welche Motivation steht dahinter? Das hat bestimmt komplexe und unterschiedliche Hintergründe. Schlechte Erfahrungen mit Autoritäten, die manchmal ihrer Aufgabe nicht gerecht werden oder ihre Macht missbrauchen? Aber vielleicht auch persönliches Scheitern. Die Molekularbiologin Judy Mikovits beispielsweise wurde 2011 vom Whittemore Peterson Institute for Neuro-Immunse Disease wegen nicht haltbarer Forschungsergebnisse entlassen. Solche biografische Ereignisse können traumatisieren und Kränkungen setzen. Das kann zu Ressentiments und Autoritätsaversion führen (das soll aber nicht als Ferndiagnose betreffend Judy Mikovits verstanden werden).
Quellen:
Wikipedia zum Stichwort „Gegenabhängigkeit“
Angriff der Staatshasser (Tages-Anzeiger, 5. 1. 2011, Abo)
Fazit
Autoritätsaversion ist ein immer wieder anzutreffendes Element in Verschwörungstheorien: Aversion gegen Expertinnen und Experten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber auch staatliche Institutionen. Die Autoritätsaversion diffamiert Autoritäten aus einer persönlichen Motivation heraus. Sie verbreitet toxisches Misstrauen und toxischen Zweifel.
Autoritätsaversion zu erkennen und zu benennen ist daher nützlich im Umgang mit Verschwörungstheorien. Allerdings darf das nicht dazu führen, notwendige Kritik und notwendiger Widerspruch fälschlicherweise zu diffamieren.
Darum ist es entscheidend, den Unterschied zu verstehen zwischen toxischem Zweifel und toxischem Misstrauen einerseits – und gesundem Zweifel, gesundem Misstrauen andererseits. Siehe dazu hier:
Über toxische Zweifel und toxisches Misstrauen
Hintergrundwissen über die Grundsätze konstruktiver Kritik gibt’s hier:
Die Philosophin Catherine Newmark hat ein lesenswertes Buch geschrieben mit dem Titel „Warum auf Autoritäten hören?“ (Dudenverlag 2020). Sie empfiehlt, Autorität im 21. Jahrhundert nicht mehr hierarchisch zu denken, sondern als „Beziehungsfunktion“. Das würde bedeuten, dass wir bestimmten Personen in bestimmten Bereichen Verantwortung übertragen, sie davon aber auch wieder entbinden können.