Pluralismus ist eine der wichtigsten Grundlagen der liberalen Demokratie. Im Pluralismus konkurrieren eine Vielzahl unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und Organisationen mit- und gegeneinander um die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Macht. Dabei versuchen sie, ihren Einfluss in den politischen Prozess einzubringen. Verschwörungsideologien dagegen setzen auf Antipluralismus und stellen sich damit in Gegensatz zur liberalen Demokratie. Die Unterschiede zwischen demokratischem Pluralismus und verschwörungsideologischem Antipluralismus sollen in den folgenden Abschnitten verdeutlicht werden.
Weshalb neigen Verschwörungsideologien zum Antipluralismus?
Verschwörungsideologien teilen die Menschheit radikal in zwei Gruppen: Den bösen Verschwörern steht das gute, aber ausgebeutete, manipulierte, krankgemachte Volk gegenüber. Dabei gehen Verschwörungsideologien von einem einen einheitlichen Volkswillen aus, der lediglich von der Politik umgesetzt werden müsse, um die Gesellschaft zu einer besseren zu machen.
Diese irrige Vorstellung eines einheitlichen, eindeutig erkennbaren Volkswillens kann Menschen dazu verleiten, sich an demokratischen Prozessen, wie Wahlen, nicht mehr zu beteiligen oder ausschliesslich mit Maximalforderungen aufzutreten, deren vollständige Umsetzung verlangt wird. Politischer Widerspruch, individuelle Interessen, die damit verbundenen Aushandlungsprozesse, Kompromisse und Konflikte haben in verschwörungsideologischen Gesellschaftsordnungsvorstellungen keinen Platz. Je nach politischer oder religiöser Selbstverortung können diese Gesellschaftsvorstellungen unterschiedlich gestaltet sein. Sie sind aber vereint in der Vorstellung, dass ein ungeteilter Volks- oder ein eindeutiger Gotteswille existiere, der von der politischen Führung nur 1:1 umzusetzen sei. Auf dieser Vorstellung basiert der Antipluralismus verschwörungsideologischer Grundhaltungen, denn sie wenden sich entschieden gegen die individuelle Vertretung unterschiedlicher Interessen, auch mittels Parteien, Verbänden und anderen Organisationen. Verschwörungsideologien blenden die Existenz unterschiedlicher Interessen im «Volk» aus, so wie sie auch die Existenz unterschiedlicher Interessen im Lager der angeblichen Verschwörer ausblenden.
Die ganzen demokratischen Diskussionen und Aushandlungsprozesse braucht es in den Augen der Verschwörungsideologen nicht. Denn sie haben in ihrer Vorstellung ja die Schuldigen an allen Übeln schon identifiziert. Und die Enttarnung und Entfernung dieser Sündenböcke bringt die Lösung der Probleme.
„Mainstream“-Parteien sind in der verschwörungsideologischen Vorstellung nicht ein verfassungsmässig verankertes Mittel im Prozess der politischen Meinungsbildung innerhalb von Demokratien. Sie werden als von angeblichen Verschwörern wie Bill Gates oder George Soros gekauft diffamiert.
Die Nicht-Anerkennung unterschiedlicher Interessen führt in verschwörungsideologischen Gruppierungen oft zu Spaltungstendenzen. Zeigen sich unterschiedliche Interessen, wird das im Kontext des Antipluralismus rasch als Verrat aufgefasst. Intern geäusserter Widerspruch führt in der Regel prompt zum Ausschluss der widersprechenden Person aus der Gruppe.
Weshalb ist Pluralismus wichtig für die Demokratie?
Es gibt viele Gründe, weshalb der Pluralismus dem Antipluralismus vorzuziehen ist. Der Philosoph Roland Kipke weist in seinem Buch «Jeder zählt» darauf hin, dass Freiheit und Pluralismus in einem engen Zusammenhang stehen. Er schreibt dazu:
«Man kann nicht Freiheit wollen und Vielfalt ablehnen. Wer sich gegen die Vielfalt wendet, hat auch etwas gegen Freiheit. Wer sagt: “Demokratie ja bitte, aber Pluralismus nein danke”, hat nicht begriffen, was Demokratie heisst. Es gibt keine anti-pluralistische Demokratie. Ist eine Demokratie anti-pluralistisch, ist es keine Demokratie – oder auf dem Wege, sich aus dem Kreis der Demokratien zu verabschieden. Das Wort Freiheit führen alle gerne im Munde, es hat einen guten Klang. Doch an der Haltung zum Pluralismus können wir sie erkennen: die vorgeblichen und die wahren Freunde der Freiheit.
Um sich als Feind der Freiheit zu outen, braucht man nicht ausdrücklich gegen den Pluralismus zu wettern, Es reicht, so zu tun, als sei Vielfalt nur Schein oder Wahn, und als liege dahinter die eine wahre Überzeugung des Volkes verborgen, der eigentliche Volkswille, und als seien alle, die diesem Willen nicht folgen, irregeleitet oder gar “Volksverräter”. Leute, die so reden, sind deshalb eine Bedrohung der Demokratie. Nicht etwa, weil sie radikal sind, nicht weil sie die Dinge anders bewerten, nicht weil sie schlichte Parolen rufen, sondern weil sie glauben, die einzigen zu sein, die den wahren Volkswillen erspüren und ihm Ausdruck verschaffen. Den wahren Volkswillen aber gibt es nicht. Nur eine Vielfalt an politischen Überzeugungen, Mehrheiten und Minderheiten. Wer das ignoriert, steht mit dem gesellschaftlichen Pluralismus auf dem Kriegsfuss – also mit der Freiheit. Die vermeintlichen Volksversteher verstehen die Volksherrschaft nicht.
Die Gesellschaft, die sich die Gegner der Vielfalt erträumen, und die freie, pluralistische Gesellschaft – sie verhalten sich wie die Salzwüste zum tropischen Regenwald. Einförmig und lebensfeindlich das eine, artenreich und vielfältig das andere. Wer nicht anders kann, betrachte den Pluralismus als Preis der Freiheit. Aber wer kann, sieht ihn als Gewinn. Denn der Pluralismus ist nicht nur Ergebnis der Freiheit, sondern er fördert sie auch. Erst in einer nicht-einförmigen Gesellschaft kann sich Freiheit voll entfalten. Erst die Vielfalt an Lebensstilen ermöglicht eine eigene Wahl. Erst da, wo Abweichung normal ist, lässt sich ungestört ungewöhnlich sein. Pluralismus heisst: Raum für Freiheit.»
Demokratie und Pluralismus beeinflussen sich wechselseitig. Dazu schreibt Roland Kipke:
«Die Demokratie ermöglicht also nicht nur den Pluralismus, sondern sie moderiert ihn zugleich. Sie entscheidet, in welchem Rahmen die pluralistische Gesellschaft sich bewegt. Es ist ein grosser, weiter Rahmen. Er lässt viel Platz. Aber es ist ein Rahmen.»
Lob der Unterschiedlichkeit
Roland Kipke bricht an einer anderen Stelle seines Buches eine Lanze für die Unterschiedlichkeit:
«Gleiche Freiheit für alle hat Folgen. Denn Menschen sind unterschiedlich. Sie wollen und wünschen Unterschiedliches, sie denken, meinen, fühlen, lieben unterschiedlich. Wenn sie frei sind, leben sie ihre unterschiedlichen Ideen und Vorlieben aus. Das heisst: Eine freie Gesellschaft ist von Unterschiedlichkeit geprägt, sie ist eine vielgestaltige, pluralistische Gesellschaft. Ist nur einer im Staate frei, gibt’s Paläste. Sind alle frei, gibt’s Pluralismus.»
Der Pluralismus ist dem Antipluralismus aber auch überlegen, wenn es um die Verbesserung der Gesellschaft geht. Prof. Elif Özmen schreibt dazu in ihrem Buch «Politische Philosophie»:
«Verhältnisse lassen sich nur dann ändern, idealiter verbessern, wenn mindestens zwei Gruppen mit Argumenten streiten. Streit, Meinungsbildung, der Austausch von Argumenten, öffentlicher Vernunftgebrauch – dieses prägt nicht zufällig das Ethos der Demokratie. Es ist vernünftiger, um das adäquate Verständnis für die politischen Entscheidungen und Handlungen sowie die Anwendungsfelder des Politischen mit Argumenten zu streiten und schliesslich die Stimmen zu zählen, als zu kämpfen.»
Quellen zum Beitrag „Antipluralismus als Bestandteil von Verschwörungsideologien“:
Roland Kipke, «Jeder zählt – was Demokratie ist und was sie sein soll», J.B. Metzler Verlag 2018.
Elif Özmen, «Politische Philosophie zur Einführung», Junius Verlag 2013.
Wichard Woyke, «Pluralismus», in: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 7., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2013, veröffentlicht auf: Bundeszentrale für politische Bildung.
Verschwörungsideologien – Hype oder Gefahr?, Mobiles Beratungsteam gegen Rassismus und Rechtsextremismus, für demokratische Kultur Hessen e.V.
«Die Bundestagswahl 2021: Welche Rolle Verschwörungsideologien in der Demokratie spielen» CeMas.
Kommentar & Ergänzung:
☛ Fazit: Demokratie und Pluralismus statt Verschwörungsideologie und Antipluralismus.
☛ Siehe auch:
Warum sind Verschwörungstheorien eine Gefahr für demokratische Gesellschaften?
Bedrohung der Demokratie durch Verschwörungstheorien und Digitalgiganten
Demokratie: Warum Verschwörungstheorien für sie gefährlich sind
Wann werden Verschwörungstheorien demokratiefeindlich und gefährlich?