Der Antichrist soll ein Gegenspieler Christi sein, ein «falscher Messias». Als Gegenmacht soll er vor Christi Wiederkunft auftreten, die Menschen täuschen, verführen und ins Verderben stürzen.
Erste Hinweise auf den Begriff finden sich im Neuen Testament. Die Kirchenväter und die mittelalterlichen Theologen haben die Figur und ebenso das Wirken des «Antichrist» legendenartig ausgestaltet. In der Reformationszeit hielt Martin Luther den Papst für den Antichrist, und andere Reformatoren wie Huldrych Zwingli, Heinrich Bullinger, Theodor Bibliander, Johannes Oekolampad, Martin Bucer und Johannes Calvin folgten ihm darin.
Katholische Theologen dagegen nannten die Reformatoren nicht „Antichrist“, sondern „Antichristus mixtus“, also mit antichristlichen Zügen ausgestattete Vorläufer des „Antichristus purus“, der erst in der Endzeit erscheine.
Im 19. Und 20. Jahrhundert kamen neue Konzepte dazu und der Begriff wurde sehr vielfältig verwendet.
Michael Hagemeister schreibt:
«Der Antichrist kann mit einer historischen Person (Nero, Napoleon, Lenin, Hitler), einem Kollektiv (‘Weltjudentum’, Freimaurer), einer Institution (Papsttum), Ideologie (Rationalismus, Materialismus, Atheismus) oder einer politischen Bewegung (Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus) identifiziert werden.»
Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse
Mit der Figur des Antichrist verbinden sich in der Neuzeit oft Annahmen, dass der geschichtliche Prozess ein Ziel hat. Er wird vorangetrieben durch den permanenten Kampf zweier unversöhnlicher Mächte, des Guten und des Bösen, mit einer Entscheidungsschlacht (Harmagedon) am Ende der Zeiten, die zum Untergang der alten, durch Konflikte zerrissenen Welt führt und zum Beginn einer neuen, vollkommenen und zeitlosen Welt. Das Konzept des Antichristen basiert auf einem klaren Dualismus, einem Weltbild mit scharfer Gut-Böse-Trennung.
Seit der Französischen Revolution entstanden antisemitische Verschwörungstheorien, die den Antichrist auf das angebliche Weltjudentum und seine angeblichen bösen Pläne gegen die Menschheit, speziell gegen die Christen, bezogen.
Im Hinblick auf die totalitären Weltanschauungen des 20. Jahrhunderts wurde in christlicher und auch in weltlicher Literatur der Antichrist unter anderem in Hitler, Lenin und Stalin ausgemacht. In Rumänien meldete der Nachrichtensprecher 1989 nach der Hinrichtung des gestürzten Diktators Ceaușescu: „Welch ein Weihnachten – der Antichrist ist tot!“
In der Nazi-Zeit bekam das Bild des Antichristen in Ideologie, politischer Auseinandersetzung und Literatur eine verstärkte Bedeutung – und zwar von verschiedenen Seiten.
Die nationalsozialistische Propaganda setzte den «Juden» direkt oder indirekt mit dem Antichristen gleich.
Der Begriff des Antichristen tauchte aber auch auf im Widerstand gegen das Regime. So beispielsweise beim Protestant Hans Scholl, der mit der Widerstandsgruppe Weiße Rose zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus gehörte. Er bezeichnete Hitler in einem Flugblatt als „Boten des Antichrists“ und später in einem Gespräch direkt als Antichrist: „Der Antichrist kommt nicht erst, er ist schon da!“
Antichrist-Vorstellungen in der Gegenwart
Christliche Konfessionen
Im Zuge der ökumenischen Verständigung zwischen den Konfessionen versiegten sie gegenseitigen Beschuldigungen als «Antichrist». In Europa wird der Begriff in den christlichen Konfessionen nur noch von wenigen zumeist fundamentalistischen Personen im Munde geführt. Ein Beispiel ist der ehemalige Erzbischof von Bologna, Giacomo Biffi. Er bezeichnete im Jahr 2007 Pazifismus, Ökumene und ökologische Bewegungen als Erscheinungsformen des Wirkens des Antichristen.
In den USA dagegen ist die Befürchtung, der Antichrist werde in naher Zukunft die Weltherrschaft erringen, aufgrund der intensiven Medientätigkeit evangelikaler Publizisten wie des Fernsehpredigers Jerry Falwell oder des Schriftstellers und Radiomoderators Hal Lindsey weit verbreitet. Als Vorboten und Indizien gelten ein zunehmender Supranationalismus in Europa und Nordamerika. Er gilt als Schritt auf dem Weg zu einer Weltregierung oder zur Wiedererstehung des Römischen Reichs.
Als Hinweis auf den Antichrist gilt ebenso die Einführung bargeldlosen Zahlungsverkehrs. Mit ihr soll der Antichrist, wie in der Offenbarung vorhergesagt, alle, die nicht sein Malzeichen tragen, von jeglicher Geschäftstätigkeit ausschließen. Als Vorbote gilt auch die zunehmende elektronische Datenverarbeitung und Überwachungstechnik. In diesem Zusammenhang taucht die Vorstellung auf, demnächst würde allen Menschen ein Computerchip implantiert werden, mit denen ihr Aufenthaltsort oder sogar ihre Gedanken kontrolliert werden könnten. Diese Befürchtungen sind häufig mit Verschwörungstheorien wie der von einer „Neuen Weltordnung“ verbunden, die die Herrschaft des Antichrist vorbereiten oder ausmachen werde.
Unter evangelikalen Christen in den USA ist der Glaube weit verbreitet, der Antichrist sei bereits unter uns und der letzte Kampf der Guten gegen die Bösen stehe bevor. Dieser Irrationalismus ist gefährlich und beeinflusst die Politik. Der prophezeite Antichrist wird in den USA immer wieder mit aktuellen Politikern in Verbindung gebracht. Freikirchliche Fanatiker warfen im ersten Wahlkampf von Barack Obama ernsthaft die Frage auf, ob der damalige Präsidentschaftskandidat der Antichrist sein könnte. Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Harris Interactive aus dem Jahr 2010 sind 29 Prozent der Republikaner davon überzeugt, dass Barack Obama die USA an eine Weltregierung ausliefern will. Im evangelikalen Weltbild ist mit dieser Vorstellung die Herrschaft des Antichristen zu Beginn der Apokalypse gemeint. An diesem Beispiel ist deutlich zu erkennen, wie Verschwörungstheorien die praktische Politik beeinflussen können.
Populärkultur
In den 1960er Jahren identifizierten manche konservativen christlichen Gruppen künstlerische Entwicklungen wie die Beat- und Rockmusik mit dem Antichristentum. Hinter ihnen soll der Teufel stecken. Als Reaktion darauf kam es seit den 1980er Jahren zur Zunahme von Musikgruppen, die sich betont antichristlich geben („ACs“). Zahlreiche Jugendliche sehen darin eine neue Art der Rebellion, die mit neuen Musikrichtungen und dazugehörigen Subkulturen wie Punk, Metal, Hip-Hop, Gothic, Dark Electro usw. einherging. Zum Teil werden damit genuin antichristliche oder satanistische Inhalte transportiert. Beispiele für solche Produktionen sind laut Wikipedia «das Album Antichrist Superstar der Band Marilyn Manson, deren Sänger Brian Hugh Warner Mitglied der Church of Satan ist, Anti’christ von Das Ich, The Antichrist von Destruction, Antichrist der dem Black Metal zuzuordnenden und sich entsprechend als satanistisch verstehenden Band Gorgoroth und ein ebenfalls Antichrist betiteltes Album der Band Akercocke.»
Quellen:
«Antichrist», von Michael Hagemeister, in: «Handbuch der Verschwörungstheorien», von Helmut Reinalter (Hg.), Salier Verlag Leipzig 2018
Beitrag «Antichrist» auf Wikipedia.
Die letzte Schlacht der Guten gegen das Böse, Interview mit Thomas Grüter (Welt online)
Anmerkung:
Die Geschichte der Figur des „Antichrist“ ist eindrücklich und sie ist vollständiger auf Wikipedia nachzulesen. Eindrücklich ist vor allem, dass diese Figur von so unterschiedlichen und auch gegensätzlichen Positionen genutzt werden kann. Der Dualismus von Gut und Böse, der damit verbunden ist, hat viel Unheil angerichtet und tut es noch.