Die Anthroposophie ist anfällig für Verschwörungstheorien, weil sie von einer geheimen Welt hinter der Welt ausgeht, in der ebenso geheime Kräfte und Wesen wirken. Diese geistige Welt ist mit allerlei Dämonen, Engeln, Kobolden und anderen Fantasiewesen besiedelt. Das Weltgeschehen deuten Anthroposophinnen und Anthroposophen genauso wie individuelle Schicksale als Teil einer kosmischen Evolutionsgeschichte. Anthroposophisch eingeweihte Menschen können durch Hellsicht höhere Wahrheiten schauen. Dieses irrationale anthroposophische Weltbild basiert auf jenen Denkweisen, die Psychologen auch mit dem Glauben an Verschwörungstheorien eng verbunden sehen. Verschwörungsdenken hat in der Anthroposophie seit ihrer Begründung immer eine Rolle gespielt.
Der Erste Weltkrieg als Gegenstand von Verschwörungstheorien
Im ausgehenden 19. Jahrhundert, zu Rudolf Steiners Lebzeiten, waren Verschwörungstheorien sehr beliebt, vor allem in den zahlreichen okkulten Zirkeln. Der Erste Weltkrieg ist Gegenstand vieler anthroposophischer Verschwörungstheorien. Schon im Jahr 1914 war sich Rudolf Steiner sicher, «dass dieser Krieg eine Verschwörung ist gegen deutsches Geistesleben». Später sprach Steiner von «westeuropäischen Geheimgesellschaften» und «okkulten Orden»,» die den Krieg Jahrzehnte lang vorbereitet hätten.
Der Historiker und Anthroposophie-Experte Peter Staudenmeier erklärt dazu in einem Interview:
«Das wohl bekannteste Beispiel dieses anthroposophischen Verschwörungsmythos – von Steiner inspiriert, unterstützt, und gefördert – ist das Buch von Karl Heise, Entente-Freimaurerei und Weltkrieg (Basel 1919). Dieses Werk leistete einen bedeutenden Beitrag zur Verbreitung von antisemitischen und antifreimaurerischen Feindbildern in der Weimarer Zeit. Andere Anthroposophen bemühten die gleichen unseligen Märchen. So wetterte Wilhelm von Heydebrand gegen englische Okkultisten, Freimaurer, Juden und Sozialisten, die den Weltkrieg entfesselten, um die ‘Vernichtung Deutschlands’ zu erreichen. Düster deutete von Heydebrand an, dass ‘die Freimaurer-Logen der Anglo-Amerikaner und ihre romanischen Anhängsel stark von einem intellektuell hochentwickelten Judentum durchsetzt sind. In anthroposophischen Darstellungen des Weltkrieges kehren okkulte Verschwörungen immer wieder, eine Tradition, die sich vom Kriegsende bis heute hartnäckig erhalten hat (…)».
Verschwörungsdenken in der Anthroposophie auch heute noch salonfähig
André Sebastiani schreibt in seinem Buch «Anthroposophie – eine kurze Kritik»:
«Steiner und seine Nachfolger strickten zahlreiche Verschwörungstheorien häufig mit antiamerikanischen oder antisemitischen Inhalten. Dieses Verschwörungsdenken ist auch heute noch unter Anthroposophen salonfähig. Ken Jebsen oder Daniele Ganser (beide sind ehemalige Waldorfschüler) mit ihren verschwörungstheoretischen Thesen sind gern gesehene Gäste an Waldorfschulen. Ganser wurden in der anthroposophischen Wochenzeitschrift Das Goetheanum, die von der Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach herausgegeben wird, vier Seiten eingeräumt, um seine Thesen zu verbreiten. In dieser und anderen anthroposophischen Publikationen finden sich immer wieder entsprechende verschwörungstheoretische Motive.»
Anthroposophie anschlussfähig nach rechts und links
Sebastiani weist in seinem Fazit darauf hin, dass die Anthroposophie anschlussfähig nach rechts und links ist:
«Gerade diese Offenheit für Verschwörungsideologien, sorgt dafür, dass die Anthroposophie für Reichsbürger und andere Rechte anschlussfähig ist. In antiamerikanischen Verschwörungstheorien, finden Anthroposophen im politisch rechten wie linken Spektrum einen gemeinsamen Nenner und können sich auf eine Tradition berufen, laut der okkulte angloamerikamische Bruderschaften des Westens unter Führerschaft obskurer Hintermänner ihr Unwesen treiben und die Weltgeschicke zu bestimmen versuchen.»
Quelle bis hierhin:
André Sebastiani, Anthroposophie – eine kurze Kritik, Alibri Verlag 2019
Der Journalist Peter Bierl befasst sich in einem Beitrag zum Thema Esoterik und Verschwörungsdenken mit der Anthroposophie:
«Eine wichtige Rolle spielen Verschwörungstheorien in der Anthroposophie, der größten und einflussreichsten Strömung der Esoterik in Deutschland. Sie lehrt die Existenz von Engeln, Volksgeistern und Götterboten. Politische Ereignisse werden durch das Wirken der Dämonen Ahriman und Luzifer erklärt, die für Materialismus und Intellektualismus stehen. Den Ersten Weltkrieg deuteten der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, und sein Anhang als Verschwörung von britischen Freimaurern, Jesuiten und jüdischen Bankern gegen Deutschlands Mission.
Die Galionsfigur der Ostermarschbewegung, Renate Riemeck, Anthroposophin und vormaliges NSDAP-Mitglied, wiederholte diese Sicht in einer Artikelserie, die unter dem Titel »Mitteleuropa – Bilanz eines Jahrhunderts« (1965) inzwischen vier Auflagen erlebt hat. Zum hundertsten Jahrestag des Kriegsausbruchs von 1914 schrieb Lorenzo Ravagli in der Zeitschrift Erziehungskunst, die der Bund der Freien Waldorfschulen herausgibt, Steiners Äußerungen zum Ersten Weltkrieg hätten sich allesamt bewahrheitet. Das gelte insbesondere für die »esoterischen, okkulten und spirituellen Tatsachen«.
Der anthroposophische Perseus-Verlag in der Schweiz hat sich auf dieses Thema spezialisiert. Dessen Chef Thomas Meyer deutet den Ersten Weltkrieg wie auch den Ukraine-Konflikt als Versuche der angloamerikanischen Mächte, die Mission Mitteleuropas zu torpedieren. Diese bestünde darin, den »aus der Tyrannei des Bolschewismus befreiten Ostvölkern« neue spirituelle Entwicklungen zu vermitteln. Meyers Zeitschrift »Der Europäer« bietet Verschwörungstheoretikern wie Gerhard Wisnewski oder Daniele Ganser ein Forum.»
Quelle:
Peter Bierl, Die andere Realität – Die Esoterik reaktiviert das Verschwörungsdenken,
in: Zeitschrift des Informationszentrums 3. Welt (iz3w), Nr. 371
Der Politikwissenschaftler Oliver Geden befasste sich in seinem Buch «Rechte Ökologie» mit der Anthroposophie. Er geht dabei auch auf die «Kriegsschuldfrage» ein, die bei Steiner und seinen Anhängern verschwörungstheoretisch aufgeladen ist:
«Für Steiner war der Erste Weltkrieg nichts anderes als ein zwingend notwendiger Prozess, eine Verschwörung gegen die geistige Mission Deutschlands in Mitteleuropa, mitverursacht durch ahrimanische Geistwesen. Eine ganze Fülle solcher Aussagen findet sich in Briefen Rudolf Steiners an Helmuth von Moltke und ab 1916 in sogenannten post-mortem-Botschaften, in denen Steiner angeblich als Medium des verstorbenen Moltke fungiert, indem er scheinbar Moltkes Gedanken zum ersten Weltkrieg aus dem Jenseits aufnimmt und wiedergibt, statt sie als seine eigenen zu kennzeichnen…..
Bereits 1920 veröffentlichte der Anthroposoph Karl Heise sein Buch ENTENTE-FREIMAUREREI UND WELTKRIEG, in dem er, auf Basis von Steiners Vorträgen zur Zeitgeschichte, britische Geheimgesellschaften und ihre angeblichen Weltherrschaftsziele für den Ausbruch des ersten Weltkriegs verantwortlich macht. Bemerkenswert an dieser Veröffentlichung ist die Tatsache, dass Steiner deren Herausgabe mitfinanzierte und für die erste Ausgabe gar ein Vorwort verfasste.»
Quelle:
Oliver Geden, Rechte Ökologie – Umweltschutz zwischen Emanzipation und Faschismus, Elefanten Press Verlag Berlin 1996
Aktuellere Kontroverse innerhalb der Anthroposophie
Die vorherigen Ausführungen haben gezeigt, dass Verschwörungsdenken in der Anthroposophie seit ihren Anfängen zu finden ist. Zu diesem Thema gab es allerdings in neuerer Zeit erstmals eine inner-anthroposophische Kontroverse, die an die Öffentlichkeit gelangte.
Im Jahr 2018 veranstaltete der Paracelsus-Zweig, eine Gruppierung der anthroposophischen Bewegung, in Basel eine Tagung zum Thema «Terror, Lüge und Wahrheit». Mit Daniele Ganser, Ken Jebsen und Elias Davidsson waren gleich drei bekannte Verbreiter von Verschwörungsmythen als Redner geladen.
Im Nachklang zu dieser Tagung hat die anthroposophische Zeitschrift «Info3» kritische Stellungnahmen zu Verschwörungstheorien in der anthroposophischen Bewegung veröffentlicht. Zu den acht Unterzeichnern gehören auch führende Mitarbeiter der Alanus Hochschule oder der Zeitschrift «Info3».
Deutliche Stellungnahmen
Die Stellungnahmen enthalten erfreulich klare Aussagen. Hier drei Auszüge:
Dr. Jens Heisterkamp, Zeitschrift Info3:
«…Solche Verschwörungstheorien vergiften das soziale Klima und bieten neo-autoritärem Populismus jeglicher Spielart einen Nährboden. Anthroposophische Plattformen wie das Online-Medium „Ein Nachrichtenblatt“ oder das Magazin „Der Europäer“ verbreiten (nicht selten verbunden mit neo-nationalistischen Einschlägen) Misstrauen anstelle differenzierter Kritik und schüren Manipulierungs-Ängste anstelle des Vertrauens in die rechtsstaatlichen Strukturen demokratischer Gesellschaften….»
Dr. David Marc Hoffmann, Rudolf Steiner Archiv:
«..Im anthroposophischen Umfeld begegne ich immer wieder Vertretern der krudesten Ideologien: Holocaustleugnung, Theorien der Verschwörung durch Juden, Jesuiten, Bilderbergern oder Freimaurern, spirituell verbrämte Deutschtümelei und Bekämpfung des längst überholten Vorwurfs der deutschen Alleinschuld für den Ersten Weltkrieg, die „Chemtrail“-These und dergleichen mehr. Gemeinsamer Nenner solchen Denkens ist die faszinierte Fixierung auf „das Böse“ und sein Wirken in der Welt sowie die Auffassung des Weltgeschehens als einem von einer kleinen Gruppe manipulierten Marionettentheater….»
Ramon Brüll, Geschäftsführer Info3 Verlag:
«Menschen, die Verschwörungstheorien vertreten, stellen sich meist als Fanatiker dar. Man kann an einem Daniele Ganser zwar einiges Interessante finden, seine Erklärungsmuster spitzen sich aber derartig zu, dass immer nur dieser eine Punkt gesehen wird. Die Frage, ob Kennedy wirklich nur von einem Täter ermordet wurde, wird bis heute diskutiert.
Wenn man aber bei jeder solcher Fragen sofort die CIA verdächtigt, ist das ebenso einseitig wie amtliche Erklärungen einseitig sind. Für die Lösung eines Problems braucht es immer viele Sichtweisen – und genau das macht ein Fanatiker nicht, sondern beißt sich an einer immer gleichen Erklärung fest.»
Quellen:
Die offene Anthroposophie und ihre Gegner – Stellungnahmen (Info3)
Verschwörungsmystiker wie der Basler Daniele Ganser kapern Rudolf-Steiner-Bewegung
(Aargauer Zeitung)
Nach Kritik: Jetzt wenden sich Anthroposophen erstmals gegen Verschwörungstheorien
(Solothurner Zeitung)
Diese acht kritischen Stellungnahmen sind nur ein erster überfälliger Schritt. Eine ernsthafte Auseinandersetzung der Anthroposophie mit ihren verschwörungsmythischen Anteilen steht noch aus.
Siehe auch:
Esoterik & Verschwörungstheorien
Die Anthroposophie hat Bezüge zur Gnosis und zum Manichäismus.