Anomalien suchen ist fast schon eine Basistechnik von Verschwörungsgläubigen. Steven Novella nennt dieses Vorgehen «anomaly hunting» («Jagd nach Anomalien») und beschreibt es in seinem Buch «Bedienungsanleitung für deinen Verstand».
Durch das Aufspüren von Anomalien meinen Verschwörungsgläubige, die «offizielle Version» eines Ereignisses erschüttern zu können und damit der eigenen Verschwörungstheorie mehr Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Sie suchen dazu ein Vorkommnis nach Beobachtungen ab, die aus dem Rahmen fallen und durch die offizielle Version nicht erklärt werden. Sie fanden fanatisch nach Ungereimtheiten, die in jeder Erzählung vorkommen und übersehen darüber das grosse (eigentlich sinnvolle) Ganze.
Ein gutes Beispiel dafür ist der «Regenschirm-Mann» («Umbrella Man») bei der Ermordung von John F. Kennedy. In verschieden Filmen und auf Fotos ist zu sehen, dass der Mann einen schwarzen Regenschirm trug, den er öffnete und über seinem Kopf schwenkte, als die Limousine des Präsidenten sich näherte, und kurz bevor die tödlichen Schüsse fielen.
Auffallend war das Verhalten dieses Mannes vor allem, weil in Dallas zu diesem Zeitpunkt kein Tropfen Regen vom Himmel fiel. Es hatte nur in der Nacht zuvor geregnet. Und zum Zeitpunkt des Attentats hielt auch ausser dem Regenschirm-Mann niemand vor Ort einen Regenschirm geöffnet.
Verschwörungsgläubige suchen solche Ereignisse wie mit einer Lupe nach Anomalien ab. So war es nicht überraschend, dass sie den aus dem Rahmen fallenden «Regenbogen-Mann» mit seinem seltsamen Verhalten in der Folge in ihre Verschwörungstheorien einbauten. Sie spekulierten zum Beispiel, dass der «Umbrella Man» mit dem Schirm das Zeichen zum Schiessen gab. Jedenfalls musste diese Person Teil eines Komplotts sein. Diese Verschwörungsidee wurde im Spielfilm JFK – Tatort Dallas von Oliver Stone (1991) aufgegriffen und weitergesponnen, ebenso in der Folge „Gedanken des geheimnisvollen Rauchers“ (1996) der Fernsehserie Akte X – Die unheimlichen Fälle des FBI (Staffel 4, Folge 7). Eine andere Spekulation ging davon aus, der Umbrella Man habe einen Betäubungspfeil auf Kennedy geschossen, um den Schüssen ein leichteres, unbewegliches Ziel zu bereiten.
Worum ging es jenseits der spekulativen Jagd nach Anomalien
Der 1976 eingesetzte Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses (HSCA) zur Aufklärung des Attentats erliess einen Aufruf, worauf sich 1978 Louie Steven Witt meldete und angab, der gesuchte „Umbrella Man“ zu sein. Er sagte unter Eid vor dem Kongress aus. Mit dem Regenschirm habe er damals gegen John F. Kennedy demonstrieren wollen, dessen Vater Joseph ein Anhänger des britischen Premierministers Neville Chamberlain (1937–1940) war, der seinerseits vor dem Zweiten Weltkrieg eine Appeasement-Politik (Beschwichtigungspolitik) gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland betrieben hatte. Chamberlain hatte den Spitznamen „Umbrella Man“, da er oft einen Regenschirm trug und in Karikaturen stets mit Regenschirm dargestellt wurde.
John F. Kennedy dürfte den Regenschirm als Symbol der Appeasement-Politik Chamberlains gekannt haben, da er sich in seiner Abschlussarbeit in Harvard mit diesem Thema befasst hatte. Auch hatte das Weiße Haus schon Regenschirme als Zeichen des Protests gegen Kennedy erhalten.
In der Befragung vor dem HSCA erklärte Witt: „Ich denke, wenn das Guinness-Buch der Rekorde eine Kategorie hätte für Leute, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren und das Falsche taten, dann wäre ich die Nummer 1 in dieser Kategorie, weit vor dem Zweitplatzierten.“
Im Jahr 2011 drehte Errol Morris im Auftrag der New York Times eine Kurzdokumentation über Witt namens „The Umbrella Man“:
Dass Louie Steven Witt bei trockenem Wetter mit aufgespanntem Regenschirm am Strassenrand stand, ist eine echte Anomalie. Das Beispiel zeigt, wie rasch eine solche Ungewöhnlichkeit in ein verschwörungstheoretisches Konstrukt integriert wird, während andere Erklärungen unbeachtet bleiben.
Wann schmilzt Stahl? Anomalien-Jagd zu 9/11
Auch das Ereignis des Terroranschlags 9/11 in den USA bietet Verschwörungsgläubigen reichlich Gelegenheit zur Anomalien-Suche. Eine scheinbare Ungereimtheit, die immer wieder zum Thema wird: Das Kerosin aus den Flugzeugen brenne nicht heiss genug, um Stahl schmelzen zu lassen. Folglich müssten die Türme gesprengt worden sein. Holm Gero Hümmler schreibt in seinem Buch über «Verschwörungsmythen»:
«Tatsächlich liegt der Schmelzpunkt von Baustahl, abhängig von der genauen Zusammensetzung, bei ca. 1500 Grad Celsius. Typische Brände in Innenräumen erreichen Temperaturen von 600 – 1000 Grad, wozu auch die Auswertung von Aufnahmen des World Trade Centers passt….
Tatsächlich beginnt die Belastbarkeit von Baustahl schon bei 400 Grad abzunehmen und liegt bei 600 Grad nur noch bei der Hälfte des ursprünglichen Wertes.»
Die Anomalie ist also nur eine scheinbare.
Die angebliche Mondlandungslüge
Manche Verschwörungsgläubige behaupten, dass nie Astronauten auf dem Mond waren. Die Mondlandung sei nur eine aufwendige Täuschung gewesen, um eventuelle Rivalen mit ihrer Leistungsfähigkeit in der Raumfahrt einzuschüchtern. Für diese Behauptung gibt es nicht den Hauch eines Beweises. Auch die angebliche Mondlandungslüge ist ein illustratives Beispiel für die Jagd nach Anomalien.
So wird beispielsweise eingewandt, dass auf den Bildern von der Mondoberfläche im Hintergrund am dunklen Himmel keine Sterne zu erkennen sind – als seien die Aufnahmen in einer Halle entstanden.
Auch diese scheinbare Anomalie lässt sich leicht erklären. Holm Gero Hümmler schreibt dazu: «Die Belichtung der Kameras auf den Apollo-Missionen war so eingestellt, dass die im grellen Sonnenlicht extrem hellen Flächen des Mondbodens, der Raumanzüge und der Landefähre korrekt abgebildet wurden. Bei diesen Einstellungen ist das Licht der Sterne so schwach, dass es auf dem Film keine erkennbaren Abbilder verursacht.»
Rund um die angebliche Mondlandungslüge entdeckten Verschwörungsgläubige noch eine ganze Reihe von scheinbaren Anomalien, die sich aber einfach durch plausible Gründe erklären lassen, wenn man denn an Gründen interessiert ist.
Entscheidend ist, wie «Anomalie» definiert wird
Verschwörungsgläubige fassen in der Regel den Begriff der Anomalie sehr weit. Was genau wird denn als Anomalie bezeichnet? Zählt dazu alles, was uns komisch vorkommt? Oder fallen darunter nur Phänomene, die auch nach intensivem Recherchieren nicht erklärbar sind? Dann würde sich die scheinbare Anomalie mit den fehlenden Sternen rasch in Luft auflösen. Eine sehr kurze Recherche würde dazu genügen.
Ist die Definition von Anomalie hingegen weit gefasst und werden grosse Datenmengen danach durchsucht, ist so gut wie sicher, dass man auf augenscheinliche Anomalien stösst. Doch nur schon die Tatsache, dass es Anomalien gibt, beweist noch gar nichts. Jemand, der alle Ereignisse rund um das Attentat auf John F. Kennedy unter die Lupe nimmt, wird immer auf viele ungewöhnliche Aspekte oder Ungereimtheiten stossen. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass diese auch bedeutsam sein müssen. Sie können auch rein zufällig sein.
In der Wissenschaft wird dagegen erst von einer Anomalie gesprochen, wenn umfassende Erklärungsversuche innerhalb bewährter Theorien allesamt gescheitert sind. Eine echte Anomalie lässt sich also anhand des derzeitigen Modells der Natur nicht erklären. Darum sind Anomalien von speziellem wissenschaftlichem Interesse. Als Belohnung winken neue Erkenntnisse, die das Potenzial haben, bestehende Theorien zu vertiefen oder zu erweitern.
Quellen:
Bedienungsanleitung für deinen Verstand, von Steven Novella, Riva Verlag 2019.
Verschwörungsmythen – wie wir mit verdrehten Fakten für dumm verkauft werden, S. Hirzel Verlag 2019.
Beitrag zum Thema «Umbrella Man» auf Wikipedia.
Wahrheit und Verschwörung – wie wir erkennen, was echt und wirklich ist, von Jan Skudlarek, Reclam Verlag 2019