Akzelerationismus ist eine philosophische Denkschule, die verschiedene Strömungen umfasst, und ursprünglich eher antikapitalistisch ausgerichtet war. Akzeleration bedeutet «Beschleunigung». Akzelerationistische Politik in diesem antikapitalistischen Sinn hält es für nutzlos zu versuchen, dem System durch Aussteigen zu entkommen oder es durch Kritik zu überwinden.
Man muss stattdessen auf den unaufhaltsam rasenden Zug aufspringen, technische Errungenschaften und Beschleunigung begrüßen und sie für emanzipatorische Zwecke vereinnahmen. Der Kapitalismus soll also mit seinen eigenen Waffen geschlagen werden. Dem Akzelerationismus erscheint es also als unmöglich, außerhalb des Systems zu stehen. Aus diesem Grund muss man Teil davon werden und sich selbst an der permanenten Beschleunigung beteiligen.
Akzelerationistische Vorstellungen werden jedoch auch zunehmend von rechtsextremen Kreisen genutzt und verbinden sich dabei mit Verschwörungstheorien.
Der Begriff «Akzelerationismus» wird daher seit einigen Jahren auch benutzt, um Strategien von politischen Extremisten zu bezeichnen, die durch Terror einen Kollaps der Gesellschaft herbeiführen beziehungsweise beschleunigen wollen, um nach dem Zusammenbruch ihr eigenes, antidemokratisches Süppchen kochen zu können.
Karolin Schwarz schreibt dazu:
«Viele Rechtsradikale glauben fest daran, dass der Kollaps der Gesellschaft bevorsteht. Einige von ihnen sind der Ansicht, dass dieser Zusammenbruch nötig sei. Mit dem Begriff des Akzelerationismus erklären sie ihren Wunsch, den Zusammenbruch zu beschleunigen, etwa mittels moderner Technik. Die Theorie bezog sich ursprünglich vor allem auf den Kapitalismus und darauf, ihn mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen, wurde aber durch rechtsradikale Milieus angeeignet und erweitert……
Dabei dient der Begriff einerseits zur Erklärung des vermeintlich bevorstehenden Zusammenbruchs, der durch moderne liberale Werte, wie Diversität, Multikulturalismus und Gleichberechtigung, bedingt würde. Als ultimative Eskalation werden angeblich gesteuerte Migrations- und Fluchtbewegungen begriffen, was oft pauschal jüdischen Menschen angedichtet wird.»
Gemeint ist hier insbesondere die Verschwörungstheorie vom «Grossen Austausch», hinter dem der Lieblings-Feindbild der Rechtspopulisten und Rechtsextremen stecken soll, der jüdische Investor und Philanthrop George Soros.
Der «grosse Austausch» sei Teil des akzelerationistischen Glaubens, schreibt Schwarz.
Zu Folgen und Risiken des Akzelerationismus
Manche Rechtsradikale sind darüber hinaus gehend davon überzeugt, dass nur eine völlige Destabilisierung darauf hin wirken könne, dass ihr Ziel näher rücke. Anschläge werden so zu Werkzeugen der Beschleunigung. «Auch politisches Engagement für destruktive Lösungen und eine voranschreitende Polarisierung gehört zum Werkzeugkasten der Akzelerationisten», schreibt Schwarz. In diesem Sinne sind zum Beispiel fortlaufende Provokationen ein beliebtes Mittel rechtsextremer Kreise, um die Polarisierung zu vertiefen.
Karolin Schwarz schreibt weiter:
«Im Zusammenhang mit Anschlägen werden auch Massnahmen begrüsst, die zunächst eine Einschränkung für viele Rechtsradikale bedeuten würde: etwa der Ausbau von Überwachung oder striktere Waffengesetze. Repressive Massnahmen würden, so die Theorie, zu Abwehrreaktionen in der Bevölkerung führen, die den Zielen der Weltuntergangspropheten dienlich wären. Immer wieder werden auch rechtsextreme Standardwerke wie…‘The Thurner Diaries’.. in diesem Zusammenhang betrachtet und interpretiert.»
Die Schilderungen der ‘Thurner Diaries’ inspirierten den Rechtsextremen Timothy McVeigh zum Bombenattentat auf die FBI-Zentrale von Oklahoma City am 19. April 1995. Dieses Attentat kostete 168 Menschen das Leben, darunter 19 Kinder.
Gewalt-Legitimation durch Akzelerationismus
Im Netz entsteht in zunehmendem Mass eine Szene, die als militanter Akzelerationismus bezeichnet werden kann.
Rechtsextremer militanter Akzelerationismus trachtet danach, liberale, demokratische und kapitalistisch verfasste Gesellschaften zusammenbrechen zu lassen. Dazu sollen vorhandene Widersprüche oder wahrgenommene Verfallsprozesse dieser Gesellschaften beschleunigt werden. Dies kann angestrebt werden sowohl durch Manipulationsversuche öffentlicher Diskurse – zum Beispiel durch Vertiefung von Polarisierung durch Provokation oder durch organisierte Shitstorms mit dem Ziel, im Netz die Oberhoheit zu erlangen – als auch durch terroristische Mittel. Militanter Akzelerationismus ist ein international auftretendes Phänomen. In den USA beziehen sich Terrorgruppen wie die «Atomwaffen Division» regelmässig auf die Verschwörungstheorien des Akzelerationismus und in Neuseeland postete der Attentäter von Christchurch im März 2019 seine eigene Auffassung von Akzelerationismus.
In Deutschland finden sich ähnliche Gruppierungen und Individuen, die dieser rechtsterroristischen Szene zuzuordnen sind. Seit 2018 gab und gibt es in diesem Land mindestens fünf zu Anschlägen bereite Gruppierungen und Einzelpersonen, die dem militanten Akzelerationismus zugerechnet werden können. Dazu gehört auch der rechtsextreme Terroranschlag in Halle mit zwei Toten und zwei Verletzten im Jahr 2019.
Schlussfolgerungen
Rechtsextreme militante Akzelerationisten organisieren und formieren sich hauptsächlich in losen digitalen Netzwerken, insbesondere auf Telegram.
Das CeMAS (Center für Monitoring, Analyse und Strategie) hat einen Report zum militanten Akzelerationismus publiziert und schreibt zu den Schlussfolgerungen:
«Noch immer wird der digitale Raum als Radikalisierungsplattform von Sicherheitsbehörden und Politik nicht ernst genug genommen. Als Konsequenz ist der Zugang zu rechtsextremen Online-Subkulturen auch für Minderjährige heute leichter denn je. Auch Social-Media-Plattformen müssen sich ihrer Verantwortung stellen und in der Lage sein, rechte Raumaneignungsversuche zu erkennen und ihnen zu begegnen. Wir müssen als Gesellschaft besser verstehen, welche Rolle Social Media für die Radikalisierung und die Verbreitung von Desinformation spielen. Dazu bedarf es einer tiefgehenden und langfristigen Forschung. Es geht als Gesellschaft insgesamt darum, wie nicht nur solche Taten, sondern auch die vorgelagerte Radikalisierung verhindert werden können. Die Antworten auf das Problem konzentrieren sich oft auf die Reduzierung des Angebots rechtsterroristischer Inhalte.»
Die Reduzierung des Angebots rechtsterroristischer Inhalte im Netz geschieht zwar langsam, aber in zunehmendem Mass, zum Beispiel durch Deplatforming. So beispielsweise, wenn Social-Media-Konzerne QAnon-Accounts schliessen. Deplatforming kann kurzfristig wirksam und notwendig sein, weil es die Reichweite dieser toxischen Accounts beschränkt. Es ändert aber nichts an den Gründen für die Nachfrage nach diesen Inhalten. Zudem ist es eine Gratwanderung: Social-Media-Konzerne haben zweifellos eine Verantwortung, die sie zu wenig wahrnehmen. So konnte zum Beispiel der Verschwörungsideologe und Hassprediger Alex Jones jahrelang mit seinen Diffamierungen und Lügen über YouTube Geschäfte machen. Von ihren exorbitanten Gewinnen könnten die Social-Media-Unternehmen durchaus mehr Geld investieren in die Durchsetzung ihrer eigenen Richtlinien. Und bei juristisch relevanten Posts muss das zeitnah geschehen. Das Internet kann nicht ein über weite Strecken rechtsfreier Raum bleiben.
Anderseits ist es nicht unproblematisch, wenn Privatkonzerne zu viel Macht bekommen in der Frage, was publiziert werden kann. Dazu wären demokratisch legitimierte und transparente Regeln nötig.
Quellen:
Karolin Schwarz, Hasskrieger – Der neue globale Rechtsextremismus, Herder 2020.
Militanter Akzelerationismus – Ursprung und Aktivität in Deutschland
(CeMAS, Kursinfo)
Militanter Akzelerationismus – Ursprung und Aktivität in Deutschland
(CeMAS-Report, PDF, 48 Seiten)
Akzelerationismus: SCHNELLER IN DEN UNTERGANG
(belltower.news)
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Apokalypse-Erzählungen in Verschwörungstheorien
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Prepper & Verschwörungstheorien
☛ Siehe auch passend:
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