Ein schädlicher Effekt von Verschwörungstheorien liegt darin, dass sie das Engagement von Menschen in die falsche Richtung lenken. Es werden irreale, fantasierte Probleme in die Welt gesetzt. Echte Probleme geraten dadurch leicht aus dem Blickfeld. Sehr einprägsam hat das der italienische Schriftsteller, Philosoph und Medienwissenschaftler Umberto Eco (1932 – 2016) auf den Punkt gebracht:
«Jede Verschwörungstheorie richtet die öffentliche Phantasie auf inexistente Gefahren und lenkt sie von den echten Bedrohungen ab.»
Umberto Eco erläutert diese Aussage genauer mit dem Beispiel der Anschläge von 9/11 in den USA:
«Von den Hirngespinsten über ein mutmaßliches Komplott profitieren vor allem diejenigen Institutionen, auf die es die Verschwörungstheorie abgesehen hatte. Mit anderen Worten, wenn man sich vorstellt, Bush habe für den Einsturz der Twin Towers gesorgt, um den Irakkrieg zu rechtfertigen, bewegt man sich zwischen verschiedenen Halluzinationen und verzichtet darauf, die Techniken und wirklichen Gründe für Bushs Intervention im Irak zu analysieren und zu klären, welchen Einfluss die Neocons auf ihn und seine Politik gehabt haben.»
Probleme lösen statt Verschwörungstheorien bewirtschaften
Das Bewirtschaften von Verschwörungstheorien vernebelt reale Probleme und lenkt von ihnen ab. Verschwörungstheorien neigen dazu, Sachverhalte zu personifizieren. Sie lenken dadurch von Machtstrukturen ab.
Dazu gibt es eine ganze Reihe von Beispielen, wovon hier drei skizziert werden sollen:
☛ Probleme mit der globalen Migration
Migration ist eine globale Realität und aus demografischen Gründen sogar notwendig. Dass damit auch vielfältige Probleme verbunden sind, kann kaum ernsthaft bezweifelt werden. Aber das Thema ist sehr komplex. Man löst keines dieser Probleme, indem man sich Gruselgeschichten zusammenfantasiert vom Grossen Austausch («Umvolkung»), zentral gesteuert vom George Soros, dem Lieblingsfeind aller Rechtspopulisten und Rechtsextremen. Wenn also beispielsweise der autokratische angehauchte ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán mit einer faktenfernen staatlichen Kampagne George Soros zum internationalen Strippenzieher der globalen Migration macht und damit seien Landsleute in Panik versetzen will, lenkt er davon ab, dass für Ungarn Auswanderung viel das grössere Problem ist als Einwanderung. Junge, gut ausgebildete Ungarinnen und Ungarn verlassen in grosser Zahl das Land. Ein peinliches Thema für den Ministerpräsidenten.
Mit einer ganzen Palette von Verschwörungstheorien haben Rechtspopulisten und Rechtsextreme in koordinierten Kampagnen den UN-Migrationspakt diffamiert, mit dem die internationale Gemeinschaft Migration in geordnetere Bahnen lenken will.
Es kann aber auch nicht im Interesse von Rechtspopulisten und Rechtsextremen sein, dass die Probleme rund um die Migration entschärft werden. Sie würden dadurch eines ihrer wichtigsten Mobilisierungsfelder verlieren. Viel Lärm machen und mit Verschwörungstheorien ablenken ist deshalb die erfolgversprechendere Strategie.
☛ Probleme rund um die Corona-Pandemie
Für gegenwärtig in Mitteleuropa lebende Menschen ist die Corona-Pandemie mit ihren einschneidenden Folgen eine sehr neue Erfahrung und eine grosse Herausforderung. Kein Wunder, dass viele Menschen durch dieses Geschehen irritiert und verunsichert sind. Die zahlreichen Corona-Verschwörungstheorien helfen bei der Komplexitätsreduktion. Wer davon ausgeht, dass Bill Gates die Corona-Pandemie erfunden hat und uns alle mit der Impfung ein Mikrochips-Transplantat verabreichen will, hat ein klares Feindbild und eine übersichtliche Situationsbeschreibung. Aber diese Ablenkung führt auch dazu, dass notwendige Massnahmen zur Pandemie-Bekämpfung vernachlässigt werden.
☛ Ablenkung durch falsche False-Flag-Unterstellungen
Bei einer False-Flag-Operation werden Provokationen oder Gewalttaten so inszeniert werden, dass der Eindruck erweckt wird, der Gegner hätte diese Taten begangen. Sie werden dem Gegner «in die Schuhe geschoben».
Ein idealtypisches Beispiel einer False Flag Operation war das «Unternehmen Tannenberg». Dabei inszenierte die SS Überfälle von polnischer Seite auf grenznahe Einrichtungen in Oberschlesien am Vorabend des Kriegsbeginns 1939. Diese False-Flag-Operation diente als Vorwand für den Einmarsch der Wehrmacht in Polen. Historisch ist eine ganze Reihe von False-Flag-Operationen belegt worden.
Verschwörungstheoretiker kommen allerdings oft vorschnell und ohne Belege mit dem False-Flag-Vorwurf, zum Beispiel bei Terroranschlägen und Amokläufen. Mit False-Flage-Unterstellungen operiert zum Beispiel Daniele Ganser, wenn er insinuiert, die Anschläge von 9/11 könnten ein «Inside-Job» gewesen sein und die Anschläge auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo» eine False-Flag-Operation westlicher Geheimdienste.
Auch das Sandy-Hook-Massaker in den USA wurde von Verschwörungsideologen wie Alex Jones als False-Flag-Operation hingestellt.
Es ist ausgesprochen einfach, irgendwelche Verdächtige für eine False-Flag-Operation zu nennen, wenn man dazu keinerlei Fakten liefert.
False-Flag Unterstellungen dienen nicht zuletzt der Delegitimierung von Rechtsstaat und Demokratie. Sie suggerieren, dass da etwas faul ist und fundamental nicht so abläuft, wie es dargestellt wird. Und sie dienen der Ablenkung, weil die Diffamierung falscher Verursacher von den wahren Schuldigen ablenkt – im Fall von «Charlie Hebdo» zum Beispiel von islamistischen Terroristen oder im Fall des Sand-Hook-Massakers von einem Attentäter und von den laschen Waffengesetzen in den USA, die solche Amokläufe begünstigen.
Es stellt sich die Frage, welchen Nutzen Verschwörungsideologen von faktenfreien False-Flag-Unterstellungen haben. Klar ist, dass sie damit ihr Feindbild bewirtschaften.
Deshalb ist nachdrücklich zu fordern:
Genau hinschauen. Die Komplexität vieler Situationen erkennen und anerkennen. Und schliesslich: Probleme lösen statt Verschwörungstheorien bewirtschaften!