Putin, sein Clan und seine Propagandamedien im In- und Ausland begründen den Krieg gegen die Ukraine – die «Spezialoperation», wie der Angriff in Russland genannt werden muss – mit der nötigen «Entnazifizierung der Ukraine».
Das ist eine zynische Verschwörungstheorie. Die Rechtextremen sind bei den letzten Parlamentswahlen in der Ukraine an der 5%-Hürde gescheitert. Es spricht viel dafür, dass es in Russland mehr Rechtsextreme gibt als in der Ukraine. Zudem unterstützt Putin rechtsextreme Parteien in Europa schon seit Jahren propagandistisch und finanziell. Von der «Entnazifizierung der Ukraine» zu schwafeln ist ein Beispiel für krasse Desinformation und Demagogie.
Otmar Lahodynsky, der Ehrenpräsident der Association of European Journalists (AEJ) und ehemaliger Redakteur beim Nachrichtenmagazin «profil», hat in einem Gastkommentar für die «Wiener Zeitung» das irrlichternde Gerede von der «Entnazifizierung der Ukraine» thematisiert:
«Gerne greift auch Kreml-Chef Wladimir Putin zur Faschismus-Keule. Seinen völkerrechtswidrigen militärischen Angriff auf die Ukraine begründete er mit der seiner Meinung nach notwendigen „Entnazifizierung“ der Regierung in Kiew. Dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Jude ist, störte Putins krude Verschwörungstheorien nicht. Der Faschismus-Vorwurf fällt vielmehr auf ihn zurück: Er stützt sich auf die Thesen von Iwan Iljin (1883 bis 1954), wonach die Demokratie nach westlichem Muster schädlich für Russland sei und durch eine „erzieherische und wiedergebärende Diktatur“ ersetzt werden solle. Auch der ultrarechte Ideologe Alexander Dugin gehört zu den engsten Beratern Putins. Er vertritt eine deutlich rechtsextreme Ideologie.»
Quelle des Zitats:
Schläge mit der Faschismus-Keule (Wiener Zeitung)
«Entnazifizierung der Ukraine» – Russland sollte bei sich selbst anfangen
Man sollte den Begriff «Faschismus» nicht leichtfertig verwenden, doch führende Kenner wie die Osteuropa-Historikerin Anne Applebaum und der Osteuropa-Historiker Timothy Snyder sehen im heutigen Russland typische Elemente des Faschismus.
Timothy Snyder erklärt im Interview mit B24:
«Ein Zeitreisender aus den 1930er Jahren hätte keine Schwierigkeiten, Putins Regime als faschistisch zu identifizieren, behauptet der US-Historiker: „Das Z-Symbol, Kundgebungen, Propaganda, Krieg als reinigender Gewaltakt und Todesgruben rund um ukrainische Städte machen das alles sehr verständlich. Der Krieg gegen die Ukraine ist nicht nur eine Rückkehr zum traditionellen faschistischen Schlachtfeld, sondern auch eine Rückkehr zu traditioneller faschistischer Sprache und Praxis. Andere Menschen existieren, um kolonisiert zu werden. Russland ist wegen seiner alten Vergangenheit unschuldig. Die Existenz der Ukraine ist eine internationale Verschwörung. Krieg ist die Antwort.»
Und Anne Applebaum in der Sendung «Kontraste» (ARD):
«Der Versuch, die Ukraine auszulöschen, die Ukraine von der Karte zu eliminieren, Genozid in der Ukraine zu begehen, all das ist faschistisch und sollte uns an Hitlers Deutschland erinnern…
Das System ist auf einen einzelnen Führer zugeschnitten, der keine Fehler hat und nicht ausgetauscht werden kann. Es gibt keine geregelte Nachfolge, es gibt keinen legitimen Weg ihn zu kritisieren und es gibt keine Möglichkeit, Widerspruch zu zeigen…
Autoritäre Herrscher brauchen Verschwörungstheorien, weil sie die Realität vor dem Volk verbergen müssen. In der Realität ist Putins Russland eine durch und durch korrupte Autokratie, in der einige Wenige nahezu den gesamten Wohlstand und alle Ressourcen der Gesellschaft kontrollieren. Daher braucht das Volk jemanden, dem sie die Schuld geben können, und eine Erklärung, warum sich ihr Leben verschlechtert. Und Putin hat ihnen erklärt, dass das alles die Schuld des Westens und der westlichen Werte ist.“
Quellen:
Experte: Das spricht für Faschismus in Russland (Bayerischer Rundfunk)
Das imperialistische Weltbild des Kremls (Kontraste, ARD)
Ausserdem:
☛ Die Verschwörungstheorie von der «Entnazifizierung der Ukraine» ist Teil eines grösseren Konglomerats von ähnlich verlogenen Geschichten, die vom russischen Regime zur Legitimation des Angriffskriegs in der Ukraine genutzt werden. Siehe auch:
Putin regiert Russland schon lange mit Verschwörungstheorien
Sowjetunion: Verschwörungstheorien zu ihrem Zusammenbruch
Verschwörungstheorien von westlicher Einkreisung haben in Russland Tradition
Putin’s Bild der Ukraine ist geprägt von Verschwörungstheorien
Russland: Faschismus in modernem Gewand
Slavoj Žižek zum Ukraine-Krieg und zur Paranoia Russlands
Anne Applebaum zu politischem Zynismus als Ziel russischer Propaganda
Russland: Propaganda als kollektive Verschwörungstheorie
Kreml streut Verschwörungstheorien zum Ukraine-Krieg
RT Deutsch (Russia today): Verschwörungstheorien als strategische Desinformation
☛ Verschwörungstheorien zur Ukraine werden nicht nur direkt von russischen Propagandamedien verbreitet, sondern auch von Multiplikatoren im Westen. Dazu beispielsweise:
Daniele Ganser zum Ukraine-Krieg
Verschwörungstheorien zum Krieg in der Ukraine
☛ Literaturtipps:
“Über Tyrannei – Zwanzig Lektionen für den Widerstand”, von Timothy Snyder, C. H. Beck Verlag 2022.
„Verlockung des Autoritären – warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist“, von Anne Applebaum, Pantheon Verlag 2022.