Der «Truther» und selbsternannte «Friedensforscher» Daniele Ganser diffamiert seit Jahren den Maidan-Aufstand in der Ukraine als «Putsch», der angeblich von den Amis inszeniert wurde. Seine Verschwörungserzählung wird durch konstante Wiederholung nicht wahrer und Belege liefert Ganser keine. Seine Darstellung der Ereignisse ist hochgradig einseitig.
Siehe dazu:
Daniele Ganser und die Kreml-Propaganda vom «Majdan-Putsch» in der Ukraine
Daniele Ganser: Manipulation durch verzerrte Maidan-Darstellung
Darüber hinaus stellt sich die Frage: War das, was in der Ukraine 2014 geschah, wirklich ein Putsch, wie Ganser behauptet? Dazu im zweiten Teil dieses Beitrags die Antwort des renommierten Osteuropa-Historikers Timothy Snyder. Doch zuerst zur Frage:
Was ist passiert rund um die Proteste auf dem Maidan-Platz?
Am 21. November 2013 lehnte der korrupte ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU ab. Dies geschah nachdem der russische Präsident Wladimir Putin ihn stark unter wirtschaftspolitischen Druck gesetzt hatte. Zuvor hatte er den ausgehandelten Vertrag gelobt.
Alice Bota schreibt dazu im Buch «Testfall Ukraine»:
«Was bei den Protesten auf dem Spiel stand, waren nicht Zollfreiheit oder Einfuhrquoten für Sonnenblumenöl, sondern die Hoffnung, dass mit dem EU-Assoziierungsabkommen endlich Gesetze die Willkür eines korrupten Diktators in die Schranken weisen würden. Gekämpft wurde um Werte, die aus der Perspektive eines demokratieverwöhnten Europäers selbstverständlich sind: dass man gegen eine skrupellose Staatsmacht nicht wehrlos ist. Dass Richter nicht gekauft sind und Polizisten Bürger schützen, nicht berauben. Die Bewegung auf dem Maidan, das wird mittlerweile oft vergessen, begann als ein Aufstand für die Würde.»
Diesen «Aufstand für die Würde» diffamiert Daniele Ganser repetitiv als «Putsch». Die Ukrainerinnen und Ukrainer werden in seinem Narrativ zu bezahlten Marionetten Obamas, der im Hintergrund die Strippen zieht und sie bezahlt hat.
Eskalation und Flucht von Janukowytsch
Die Staatsmacht reagierte auf die Maidan-Proteste mit dem brutalen Einsatz der Ordnungskräfte, und die zu Beginn friedlichen Demonstrationen radikalisierten sich.
Der Protest richtete sich nun generell gegen Präsident Janukowytsch und sein autoritäres Regime und entwickelte revolutionären Züge. Die Kundgebungen griffen auf andere Städte über, insbesondere in der Westukraine. Im Osten des Landes fanden zahlenmäßig geringere Gegendemonstrationen statt. Zehntausende harten im kalten Winter auf dem Kiewer Maidan aus. Von der Bevölkerung wurden sie mit Nahrungsmitteln, heißem Tee, Brennmaterial und Medikamenten versorgt.
Als die Regierung Ausnahmegesetze erließ, kam es im Januar 2014 zu einer neuen Eskalation, die Ende des Monats zu ersten Toten führte. Am 19. und 20. Februar erreichten die bewaffneten Auseinandersetzungen ihren Höhepunkt. Sie kosteten etwa 100 Menschen das Leben, darunter waren 16 Polizisten.
Unter den Aktivisten des Maidan waren neben vielen anderen auch militante nationalistische Gruppen wie der „Rechte Sektor“. Anfänglich mit wenig Einfluss, stieg deren Bedeutung nach den Gewaltanwendungen durch Ordnungskräfte, weil sich diese Gruppen ebenfalls bewaffneten und den «Maidan» verteidigten.
Aufgrund der gewaltsamen Vorkommnisse schrumpfte das Regierungslager, und die Opposition erreichte eine Mehrheit im Parlament. Einheiten der Polizei und der Armee sowie einige Oligarchen stellten sich auf die Seite der Maidan-Bewegung. Unter Vermittlung der Außenminister Deutschlands, Polens und Frankreichs wurde ein Kompromiss ausgehandelt zwischen Janukowytsch und den Anführern von drei Oppositionsparteien.
Die Maidan-Bewegung akzeptierte jedoch diesen Kompromiss nicht. Darauf gab Janukowytsch auf und flüchtete nach Russland, offenbar auch, weil sein Personenschutz ihn im Stich gelassen hatte.
Daraufhin ergriff das 2010 gewählte Parlament die Initiative, enthob den Präsidenten seines Amtes und wählte am 23. Februar Oleksandr Turtschynow zum Übergangspräsidenten und am 27. Februar Arsenij Jazenjuk zum Chef einer Übergangsregierung.
Diese Übergangsregierung unterzeichnete am 21. März den politischen Teil des Assoziierungsabkommens mit der EU. Damit war die zentrale Forderung der basisdemokratischen Revolution des Euro-Maidan erfüllt. Die Mehrheit der Bevölkerung im Osten und Süden der Ukraine hatte sich allerdings nicht beteiligt und wartete zunächst ab.
Osteuropa-Historiker Timothy Snyder: Es war kein Putsch
Für seine schon jahrelang geäusserte Behauptung, der «Putsch» in der Ukraine im Jahr 2014 sei von den Amerikanern organisiert worden, hat Daniele Ganser nie Beweise vorgelegt. Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage, ob es sich überhaupt um einen Putsch gehandelt hat.
Der renommierte Osteuropa-Historiker Timothy Snyder schreibt dazu:
«Zu einem Putsch gehören das Militär oder die Polizei oder eine Kombination beider. Das ukrainische Militär blieb in den Kasernen, und die Bereitschaftspolizei kämpfte bis zum Ende gegen die Protestierenden. Selbst als Präsident Janukowitsch floh, versuchte niemand aus dem Militär, der Polizei oder einem der Ministerien, die Macht zu übernehmen, wie es im Falle eines Putsches geschehen wäre. Janukowitschs Flucht nach Russland brachte die ukrainischen Bürger und Abgeordneten in eine aussergewöhnliche Situation: Ein Staatsoberhaupt suchte während einer Invasion seines Landes dauerhafte Zuflucht im Land der Invasoren. Das war eine Situation ohne Präzedenzfall. Der Akteur des Umbruchs war ein rechtmässig gewähltes Parlament.»
Ganser unterstellt Kooperation der USA mit Nazis auf dem Maidan
Daniele Ganser unterstellt, dass die USA beim angeblich von ihnen inszenierten Putsch auf dem Maidan Nazis unterstützt haben. Was von dieser infamen Unterstellung zu halten ist, lässt sich im Video 2 am Schluss dieses Textes anschauen.
Auch Timothy Snyder widerspricht vehement dem russischen Propaganda-Gerede von Putsch durch «Nazis»:
«Der amtierende Präsident und die Mitglieder der provisorischen Regierung waren keineswegs rechtsgerichtete ukrainische Nationalisten, sondern in der Regel Ostukrainer, die Russisch sprachen. Der Parlamentspräsident, der zum amtierenden Präsidenten gewählt wurde, war ein baptistischer Pastor aus der südöstlichen Ukraine. Die Ministerien für Verteidigung und Staatssicherheit und das Innenministerium wurden während der Übergangsperiode von Russisch Sprechenden übernommen. Der amtierende Verteidigungsminister war Roma-stämmig. Der Innenminister war halb armenisch und halb russisch von Geburt. Von den zwei stellvertretenden Premierministern war einer Jude. Der regionale Gouverneur von Dnjepropetrowsk, einer von der russischen Invasion bedrohten südöstlichen Region, war ebenfalls Jude. Auch wenn drei der 18 Mitglieder des Kabinetts der provisorischen Regierung Mitglieder der nationalistischen Swoboda-Partei waren, war dies in keiner Weise eine Regierung der Rechten.»
Kein Nazi-Putsch in der Ukraine
Ergänzend zu dem Ausführungen Snyders könnte noch erwähnt werden, dass die ukrainische Gesellschaft insgesamt dem aggressiven Werben rechter Parteien auf bemerkenswerte Weise widerstand. Die rechtsextreme Swoboda-Partei blieb bei den Parlamentswahlen im Herbst 2014 unter der fünf Prozent-Hürde, errang allerdings einige Direktmandate (Gloger 2015). Diese Rate ist tiefer als in vielen west- und mitteleuropäischen Ländern und auch tiefer als der Anteil Rechtsextremer in Russland. Das Gerede vom Nazi-Putsch in der Ukraine ist demnach kompletter Propaganda-Bullshit.
Timothy Snyder kommt zum Schluss:
«Wer putscht, der fordert nicht, dass die Macht der Exekutive reduziert wird, aber genau das geschah in der Ukraine. Wer putscht, der ruft nicht Neuwahlen aus, um die Macht zu übergeben, aber genau das geschah in der Ukraine. Die am 25. Mai 2014 abgehaltenen Präsidentschaftswahlen gewann Petro Poroschenko, ein russischsprachiger Politiker der Mitte aus der Südukraine, der vor allem als Chocolatier bekannt war. Falls es zu diesem Zeitpunkt so etwas wie einen Putschversuch gab, dann war es der Versuch Russlands, die Zentrale Wahlkommission der Ukraine zu hacken, um zu verkünden, dass ein rechtsextremer Politiker die Wahl gewonnen hatte, und die Meldung im russischen Fernsehen, dass er ebendies getan hatte.»
Geringe Popularität der extremen Rechten in der Ukraine
Timothy Snyder führt weiter aus:
«Im Mai 2014 stellten sich zwei rechtsextreme Politiker als Bewerber um das Amt des Präsidenten zur Wahl: jeder von ihnen erhielt weniger als 1% der Stimmen. Beide erhielten weniger Stimmen als ein jüdischer Bewerber, der mit einem jüdischen Parteiprogramm angetreten war. Der Wahlsieger Poroschenko forderte Parlamentswahlen, die im September abgehalten wurden. Wiederum geschah hier das Gegenteil dessen, was während eines Putsches zu erwarten wäre, und wiederum erwies sich die Popularität der extremen Rechen in der Ukraine als äusserst gering. Keine der beiden rechtsextremen ukrainischen Parteien, Swoboda und ‘Rechter Sektor’, eine neue Partei, die aus der gleichnamigen paramilitärischen Gruppe entstand, überwand die für eine Vertretung im Parlament erforderliche 5%-Hürde. Swoboda verlor ihre drei Ministerämter, und die neue Regierung wurde ohne die Rechte gebildet. Der Sprecher des neuen Parlaments war Jude; er wurde später Premierminister.»
Die auch von Daniele Ganser portierte Geschichte von der zentralen Rolle der Nazis auf dem Maidan wird von der Kreml-Propaganda verbreitet und dient der Rechtfertigung des Angriffskrieges auf die Ukraine. Siehe dazu:
Die «Entnazifizierung der Ukraine» als russische Verschwörungstheorie
Was bleibt von Daniele Gansers Gerede vom Putsch?
Nur Fiktion, sonst nichts.
Übel am Putsch-Gerede von Daniele Ganser ist, dass der selbsternannte Friedensforscher die Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich in einem mutigen Aufstand gegen ein korruptes, brutales und autoritäres Regime aufgelehnt haben, derart diffamiert. Sie werden als käufliche Marionetten der Amis hingestellt. Ihr Kampf für eine demokratische Zukunft und ihr Wunsch nach mehr Freiheit wird ignoriert. Ganser stellt sich damit auf die Seite des kolonialistischen und neoimperialistischen Russlands.
Quellen:
☛ «Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika», von Timothy Snyder, C. H. Beck Verlag 2018.
☛ «Unterirdisches Leben», von Alice Bota; in: «Testfall Ukraine», herausgegeben von Katharina Raabe und Manfred Sapper, Suhrkamp 2015.
☛ «Putins Welt – Das neue Russland, die Ukraine und der Westen», von Katja Gloger, Berlin Verlag 2015 (Seite 191).
☛ Ukraine: Die Majdan-Revolution und das bewaffnete Eingreifen Russlands (Bundeszentrale für politische Bildung)
Weitere Beiträge zu Daniele Ganser:
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