«Zeit online» hat ein informatives Interview von Eike Kühl veröffentlich. Darin äussert sich Cory Doctorow zum Thema Verschwörungstheorien.
Cory Doctorow ist ein kanadischer Autor, Journalist und Aktivist. Er befasst sich häufig mit der digitalen Welt und ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Seit einiger Zeit beschäftigt ihn das Thema «Verschwörungstheorien».
Aus dem Interview nachstehend ein paar Punkte zusammengefasst und kommentiert:
☛ Auf die Frage, weshalb in der Coronakrise Verschwörungstheorien grassieren, sagt Cory Doctorow: Weil viele Menschen nicht wissen, wie Wissenschaft funktioniert.
Es sagt aber auch, dass wir uns mit Covid-19 in einer Art Vakuum befinden, weil immer noch nicht viel über das Virus und die Krankheit wissen:
«Mit dieser Unwissenheit und Unsicherheit ist es einfacher, an bestimmte Erklärungen zu glauben – denn wieso sollte die eine Theorie, die jemand aufstellt, richtiger oder falscher sein als eine andere? Diese Ansicht rührt auch daher, dass viele Menschen nicht wissen, wie Wissenschaft funktioniert. Wir lehren unseren Kindern schon in der Schule: Ihr müsst an die Wissenschaft glauben! Wir lehren ihnen aber nicht, wieso das so ist.»
Das ist ein interessanter Aspekt, doch wie funktioniert Wissenschaft denn?
Wie funktioniert Wissenschaft?
Cory Doctorow erklärt das so:
«Wissenschaft bedeutet immer, bestehende Hypothesen zu widerlegen, sich zu widersprechen, bis man an den Punkt kommt, an dem man von einer Wahrheit sprechen kann. Man müsste den Menschen eigentlich viel mehr Epistemologie beibringen, ihnen also erklären, wie Wissen entsteht.»
☛ Angesprochen auf widersprüchliche Aussagen der Wissenschaft zur Wirksamkeit von Schutzmasken sagt Doctorow:
«Das ist ein gutes Beispiel. Wer die Entscheidungsprozesse dahinter nicht versteht, hört scheinbar widersprüchliche Aussagen und kommt zu dem Schluss, die Wissenschaft hätte keine Ahnung. In dieser Unsicherheit beginnt man, sich eigene Wahrheiten zu suchen.»
Ein gewisses Misstrauen sei ja durchaus nützlich in einer Demokratie, sagt der Interviewer, und fragt:
«Wo hört gesundes kritisches Denken auf und wo fangen Verschwörungstheorien an?»
Doctorow: «Verschwörungstheoretiker sagen immer, man solle nicht alles glauben, was man liest und hört, sondern einfach recherchieren. ‘Informier dich doch mal selbst!’ ist ihr Schlachtruf. Das stimmt. Doch leider wissen sie nicht, was gute Recherche bedeutet, wie man Fakten und Quellen prüft.»
Verschwörungstheoretiker sind falsch abgebogen
Wer an Verschwörungen glaubt, sei nicht per se verloren. Viele seien bloß im letzten Moment der Wahrheitssuche falsch abgebogen.
☛ Doctorow weist dann darauf hin, dass wir uns heutzutage leider nicht immer auf die Institutionen verlassen, die uns dabei helfen sollen, zwischen guter und schlechter Recherche zu unterscheiden. Traditionell vertrauen wir Institutionen wie der Politik und Wissenschaft, um Wahrheiten zu finden. Im besten Fall können wir Menschen uns darauf verlassen, dass die Prozesse der Wahrheitsfindung fair und transparent ablaufen. Tatsächlich aber wird die Wahrheit immer häufiger zur Auktion, und zwar insbesondere dann, wenn sich die Marktmacht konzentriert.
Doctorow weist dazu auf verschiedene Bereiche hin:
«Wieso ist die Dringlichkeit des Klimawandels noch nicht allen bewusst? Weil es immer noch einflussreiche Akteure mit viel Geld gibt, die das Gegenteil behaupten. Weshalb fiel die Boeing 737 Max vom Himmel? Weil die Luftfahrtaufsicht ihre Pflicht nicht erfüllt hat. Weshalb sinkt die Qualität des Peer-Review-Verfahrens in der Wissenschaft? Weil wenige Verlage den Markt monopolisiert haben und somit zu Türstehern der Wissenschaft wurden.» All diese Entwicklungen sorgen laut Doctorow dafür, dass das Vertrauen in die Institutionen weiter schwindet.
☛ Die Methodologie von Verschwörungstheorien erzeuge nicht nur ein Gefühl von Zugehörigkeit, Wissen und Macht. Es lasse sich auch eine Menge Geld damit verdienen. Viele Verschwörungsgläubige leben inzwischen davon, Vorträge zu geben, Bücher zu schreiben, Blogs oder YouTube-Kanäle zu betreiben. Verschwörungstheorien erzeugen zwar keine Wahrheit, dafür jedoch andere, greifbare Güter.
Soziale Netzwerke fördern Verschwörungstheorien
☛ Der Interviewer spricht dann noch soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter an. Sie stehen in der Kritik, die Verbreitung von Verschwörungstheorien zu fördern.
Doctorow bezweifelt, dass Plattformen wie Facebook die Menschen dazu bringen, etwas zu tun oder zu glauben, «auch wenn das häufig behauptet wird».
Die Plattformen können einen Nutzer nicht dazu zwingen, einen neuen Kühlschrank zu kaufen. Sie können jedoch sehr gut Menschen finden, die vielleicht einen Kühlschrank kaufen würden. Weil sie nämlich wissen, wer nach einem Kühlschrank gesucht oder auf die Werbeanzeigen geklickt hat.
So sei das auch mit Verschwörungsmythen:
«In sozialen Netzwerken ist es leichter, Menschen zu finden, die an heterodoxe Ideen glauben. Und sind sie erst einmal gefunden, ist es leicht, sie über einen langen Zeitraum immer wieder mit entsprechenden Inhalten zu konfrontieren. Facebook bringt Menschen also nicht dazu, an Verschwörungstheorien zu glauben. Aber es sorgt dafür, dass solche Theorien jene Menschen erreichen, die dafür aus den zuvor genannten Gründen empfänglich sind.»
Plattformen sind zu gross geworden
Ob die Plattformen gegen Verschwörungstheorien und Fake-News einfach stärker vorgehen müssen, fragt der Interviewer.
Doctorow ist der Ansicht, dass die Plattformen niemals so groß und mächtig hätten werden dürfen, wie sie heute sind. Ihnen nun zu sagen, dass sie gegen Verschwörungstheorien vorgehen müssen, bekämpfe deshalb nur die Symptome, aber nicht die Ursache:
«Jetzt haben wir das Problem, dass man Big Tech mit Aufgaben vertraut, die eigentlich staatlichen Stellen vorbehalten sind. Ob es sich nun um Urheberrechtsverletzungen, Hatespeech oder extremistische Propaganda handelt: Die Plattformen sollen entscheiden, was gelöscht wird und was nicht. Und das obwohl sie ziemlich schlecht darin sind, die Inhalte zu moderieren. Denn entweder automatisieren sie den Prozess und die Algorithmen treffen falsche Entscheidungen. Oder die Arbeit wird an schlecht bezahlte und häufig traumatisierte Arbeitskräfte ausgelagert.»
Und selbst wenn die Plattformen den Vorgaben gar nicht nachkommen, habe das kaum Konsequenzen. Denn selbst Strafen in Millionenhöhe beeindrucken die Konzerne nicht.
Wie sieht der Lösungsvorschlag von Doctorow aus?
Er weist darauf hin, dass systemische Probleme systemische Lösungen erfordern:
«Ich denke, wir können kollektiv etwas verändern: Wir können entscheiden, dass wir etwas gegen die Marktkonzentration einzelner Firmen und wirtschaftliche Ungerechtigkeit tun. Und wenn wir das schaffen, schwächen wir gleichzeitig verschwörerische Gedanken und das kollektive Trauma, das diese Gedanken für viele Menschen überhaupt erst so attraktiv macht.»
Quelle:
Cory Doctorow: „Wer an Verschwörungen glaubt, ist nicht verloren“ (Zeit online)
Wie entsteht Wissen in der Wissenschaft?
Dass man den Menschen vielmehr darüber beibringen müsste, wie in der Wissenschaft Wissen entsteht, ist eine sehr beherzigenswerte Anregung. Wir lernen zwar in Schule und Ausbildung mehr oder weniger viel über die Ergebnisse der Wissenschaft. Aber es wäre tatsächlich sehr wichtig, den Weg zu verstehen, wie Wissenschaft zu diesen Ergebnissen gelangt. Ein besseres Verständnis für dieses Thema würde der Wissenschaftsleugnung Wind aus den Segeln nehmen.
Zum Thema Wissenschaftsverweigerung / Wissenschaftsleugnung gibt’s hier eine Einführung:
Wissenschaftsverweigerung / Wissenschaftsleugnung
Im Interview wird zudem das Thema „Misstrauen“ angesprochen. Der Interviewer weist darauf hin, dass ein gewisses Misstrauen durchaus nützlich sei in einer Demokratie. Hier kommt es darauf an, zu unterscheiden zwischen einem gesunden Misstrauen und dem toxischen Misstrauen der Verschwörungsideologen. Siehe dazu: