Der Philosoph Konrad Paul Liessmann veröffentlichte gerade in der NZZ einen interessanten Beitrag zum Thema Verschwörungstheorien, Bildung und Ästhetik.
Die wichtigsten Punkte:
Punkt 1: Absurditäten
Verschwörungstheorien erfreuen sich gegenwärtig grosser Beliebtheit. Keine Demonstration für oder gegen Corona-Massnahmen, bei der nicht Verschwörungstheoretiker auftreten, denen keine Idee zu abstrus ist, um sich die Welt zu erklären. Verschwörungstheorien werden jedoch auch von ihren aufgeklärten Gegnern geliebt. Weil es einfach ist, Ansichten zu kritisieren, deren Absurdität offen zutage liegt. Es liegt in der Logik der Dummheit, dass man sie nicht aufwendig widerlegen muss. Es reicht, störende Meinungen und unangenehme Positionen in die Nähe von Verschwörungstheorien zu rücken, um sich ihrer zu entledigen.
Argumentative Auseinandersetzungen sind überflüssig, an ihre Stelle tritt die pädagogische Besorgnis.
Punkt 2: Bildung
Verzweifelt werde gefragt, was man gegen die rasende Verbreitung von Verschwörungstheorien tun könne, schreibt Liessmann. Die Antwort sei immer dieselbe: «Bildung, Bildung, Bildung. Vergessen wird dabei, dass nicht wenige Anhänger von Verschwörungstheorien überzeugt davon sind, besser informiert zu sein und mehr zu wissen als die durch offiziöse Medien gegängelten Menschen.»
Punkt 3: einfache Welterklärungen
Liessmann schlägt vor, das Phänomen «Verschwörungstheorie» einmal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Über die Motive von Verschwörungstheoretikern sei viel geforscht worden. Dabei sei ihnen meistens eine dumpfe Sehnsucht nach einfachen Welterklärungen und stereotypen Schuldzuweisungen unterstellt worden. Das möge wohl stimmen.
Punkt 4: Das Wahre und das Wahrnehmbare
Liessmann weist aber auf einen Aspekt hin, der oft unterschlagen werden, aber nicht nur Verschwörungstheorien auszeichne: «die Vermutung etwa, dass das unmittelbar Wahrnehmbare noch nicht das Wahre ist. Seit Platon lebt die Philosophie von dieser Annahme. Oder die Lust, die darin besteht, sich eine Welt auszudenken, in der es alles gibt, was es sonst nicht gibt. Alle Kunst und Literatur lässt sich darauf zurückführen. Der Erfolg von Filmen über Aliens speist sich aus derselben Quelle wie der Glaube, dass die Ausserirdischen längst unter uns sind. Wie einfach ist es doch, Ansichten zu kritisieren, deren Absurdität offen zutage liegt.»
Punkt 5: ästhetische Analyse
Liessmann schlägt vor, dass man Verschwörungstheorien vielleicht gelassener entgegentreten und sie gelegentlich unter ästhetischen Gesichtspunkten analysieren soll: «Man sähe dann schnell, dass manche in ihrem Aufwand und ihrer Raffinesse tatsächlich das Zeug zu einem guten Thriller oder abgründigen Roman hätten. Die Vorstellung, dass Stanley Kubrick, der Regisseur des bedeutendsten Science-Fiction-Films aller Zeiten, sein vermeintlich eigentliches Hauptwerk, die fingierte Mondlandung der Amerikaner, unter dem Deckmantel der absoluten Verschwiegenheit hätte inszenieren müssen, ist doch einigermassen vergnüglich.
Andere Konstrukte stellten sich unter dieser Perspektive hingegen sofort als plumpe, gehässige und bösartige Unterstellungen dar, denen kein ästhetischer Mehrwert abzupressen ist.» Würde man Verschwörungstheorien nicht nach ihrem Wahrheitsgehalt betrachten – was laut Liessmann wenig bringt – sondern nach ihrem künstlerischen Potenzial, nähme man ihnen die politische Spitze, ohne dass man sie im empörten Ton moralisierender Besserwisserei verurteilen müsste. Dies könne jedoch nur eine Handreichung für Menschen sein, die selbst für Verschwörungstheorien wenig anfällig sind: «Für deren Anhänger gilt das nicht. Diese können die haarsträubenden Produkte ihrer überreizten Phantasie gar nicht richtig geniessen, denn sie sind von deren Wahrheit überzeugt.»
Liessmann weist abschliessend auf Friedrich Nietzsche hin, nach dem die «felsenfesten Überzeugungen» fast immer ins Irrenhaus gehören. Dies gelte allerdings nicht nur für Verschwörungstheorien, fügt Liessmann an.
Konrad Paul Liessmann lehrt als Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien. Er hat sich in verschiedenen Publikationen mit Bildung gefasst.
Quelle: Vergnügliche Verschwörungen (NZZ)
Anmerkungen zu: Hilft Bildung gegen Verschwörungstheorien?
Zu 1)
Es ist fraglich, ob es «reicht, störende Meinungen und unangenehme Positionen in die Nähe von Verschwörungstheorien zu rücken, um sich ihrer zu entledigen. «Echte» Verschwörungstheoretiker werden sich dadurch nur in ihrem Opferstatus bestätigt fühlen. Und «richtige» Verschwörungstheorien sind gegen Argumente weitgehend immun.
Zu 2)
Bildung mag zwar bei eingefleischten Verschwörungstheoretikern nicht wirksam sein. Der Hinweis Liessmanns, dass diese sowie schon davon ausgehen, dass sie die Wissenden sind, ist treffend (siehe dazu: «Aufgewachte»). Bildung kann aber möglicherweise vorbeugend gegen Verschwörungstheorien wirksam sein. Nötig ist dazu die Förderung der Medienkompetenz und der politischen Bildung.
Zu 5)
Verschwörungstheorien unter ästhetischen Gesichtspunkten zu analysieren, ist eine interessante Idee. Schaut man sich eine Verschwörungstheorie zum Beispiel unter dem Gesichtspunkt an, ob es eine gute Erzählung ist, dann bedingt das eine gewisse Distanzierung. Wobei allerdings – darauf weist Liessmann hin, diese Distanzierung den eingefleischten Verschwörungstheoretikern kaum möglich ist – weil sie die Geschichte für wahr halten. Die ästhetische Analyse wird also überzeugte Verschwörungstheoretiker genauso wenig in ihrem Glauben erschüttern wie die kritische Analyse des Wahrheitsgehalts.
Verschwörungstheorien dürfen aber nicht ausschliesslich unter ästhetischen Gesichtspunkten analysiert werden. Es braucht auch die Auseinandersetzung mit ihren Inhalten, mit der Frage, was wahr ist. Und es braucht die Analyse unter dem Gesichtspunkt der Gefährlichkeit: Gefährdet die Verschwörungstheorie demokratische Institutionen und Prozesse? Legitimiert sie Gewalt?
Dass rein ästhetische Betrachtungsweisen problematisch sein können, zeigt sich bereits in der Politik. Wenn Bürgerinnen und Bürger politische Entscheidungen nur noch nach den Kriterien «gefällt mir/gefällt mir nicht» fällen – vergleichbar mit den Likes bei Facebook – dann fallen politische Inhalte als Entscheidungskriterien unter den Tisch. Das kann verheerende Folgen haben. Ähnlich wäre es, wenn Verschwörungstheorien rein ästhetisch beurteilt würden.