Im IPG-Journal plädiert Christian Fuchs angesichts der Bedrohung der Demokratie durch Verschwörungstheorien und Digitalgiganten für ein öffentlich-rechtliches Internet. Er beschreibt eine Reihe von Krisen, durch die «eine signifikante Anzahl von Menschen anfällig geworden ist für Verschwörungstheorien, Populismus, Demagogie und Falschnachrichten.»
Am Grund der Bedrohung sieht Fuchs eine soziale Krise, die von starken Ungleichheiten geprägt ist, ausgelöst durch die Hegemonie des Neoliberalismus. Aber auch Covid-19 trägt dazu bei und ist zugleich Gesundheitskrise, Wirtschaftskrise, politische Krise, kulturelle Krise, moralische Krise und globale Krise.
Als Gegenmittel empfiehlt der Autor den heutigen Gesellschaften eine Erneuerung des Wohlfahrtsstaates, eine stärkere Besteuerung des Kapitals und eine Umverteilung, die vor allem der arbeitenden Bevölkerung mit niedrigen und mittleren Einkommen zugutekommt.
Auch in post-neoliberalen Gesellschaften mit stark ausgeprägtem Sozialstaat und wenig Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten werde es sicherlich Verschwörungserzählungen geben. Es sei jedoch davon auszugehen, dass diese weniger stark und weniger militant ausgeprägt sein werden.
Studie zur Verbreitung von Corona-Verschwörungstheorien
Für eine Buchpublikation hat Christian Fuchs die Verbreitung von Corona-Verschwörungstheorien im Internet analysiert.
Die Untersuchung von Materialien und Kommentaren im Internet verdeutlicht, dass Corona-Verschwörungstheorien diskursiv sehr oft auf das Freund/Feind-Schema zurückgreifen und insbesondere Bill Gates als Feindbild darstellen. Im Diskurs kommt ein kruder Ökonomismus zum Zug: Jede mögliche Handlung einzelner Personen wie Bill Gates wird auf das Profitmotiv eingeschränkt. Dabei handelt es sich um eine personalisierende Kapitalismuskritik.
Nicht berücksichtigt wird dabei, dass Milliardäre wie Bill Gates so reich sind, dass sie sich Philanthropie leisten können und wollen, die tatsächlich ihren Reichtum reduziert.
Es handelt sich dabei um einen untauglichen Versuch der Rationalisierung, indem behauptet wird, dass alles, was Bill Gates unternehme, notwendigerweise böse sei. Sein Handeln sei unabdingbar und immer motiviert durch das Interesse und den Plan, Kapital und Macht zu anzureichern, da er Milliardär und Gründer eines Monopolkonzerns ist. Es existieren in diesem verschwörungstheoretischen Weltbild keine Zufälligkeiten; alles gilt als Resultat eines geheimen Plans einer Elite.
Es gibt keine einfachen Patentrezepte gegen die Bedrohung durch solche Verschwörungstheorien. Weder moralische Appelle noch Gesetze genügen als Gegenmittel.
Das grundlegende Problem sieht Christian Fuchs darin, dass die gegenwärtigen Gesellschaften politisch stark polarisiert sind und die Öffentlichkeit durch Echokammern und eine postfaktische Politik, in der die Menschen nicht durch Fakten, sondern durch Ideologie und Emotionen geleitet sind, fragmentiert ist.
Das Freund/Feind-Schema, in dem Einzelpersonen als Sündenböcken aufgebaut werden, kommt nicht nur in Verschwörungstheorien vor, sondern auch im tagtäglichen medialen und politischen Diskurs.
Dabei spielt die Boulevardisierung der Medien und der Politik eine wichtige Rolle.
Internetplattformen tragen zur Bedrohung bei
Die Internetplattformen, über die Verschwörungstheorien und Ideologien hauptsächlich verbreitet werden, sind im Besitz globaler Konzerne, die dem Profitinteresse ihrer Eigentümer verpflichtet sind.
Christian Fuchs schreibt zu diesen Internetplattformen:
«Sie haben zu einer Art digitaler fast food-Medienkultur beigetragen, die von schnellen, kurzlebigen, oberflächlichen und werbungsdurchsetzten Meinungs- und Informationsfetzen lebt. Es fehlt uns im Internet an Zeit für tiefgehende politische Debatten, wodurch die Echokammern, die Polarisierung und die Kolonialisierung der Öffentlichkeit durch Kommerz und Ideologie weiter vorangetrieben werden.»
Die Herausforderung besteht für Fuchs in der Stärkung der Demokratie und der demokratischen Öffentlichkeit bei gleichzeitigem Ausbau und Weiterentwicklung des Wohlfahrtsstaates als Teil einer post-neoliberalen Wende. Er bricht eine Lanze für die öffentlich-rechtlichen Medien:
«Öffentlich-rechtliche Medien haben in der Pandemie einerseits als Informations- und Bildungsquellen großen Zuspruch erfahren. Andererseits werden ihre Existenz und die Zulässigkeit von Rundfunkgebühren aber immer wieder von ihren Gegnern, insbesondere im politisch rechten Lager, in Frage gestellt.»
Fuchs weist in diesem Zusammenhang auf den britischen Premier Boris Johnson hin. Um von seinen eigenen Skandalen abzulenken („Partygate“), kündigte dieser unlängst an, die Rundfunkgebühr abzuschaffen. Das würde unweigerlich zur Zerschlagung der BBC führen.
Um die Öffentlichkeit zu stärken und die Demokratie zu retten, brauchen wir gemäss Fuchs jedoch nicht weniger, sondern mehr öffentlich-rechtliche Medien. Er erwähnt dabei das .
Dieses Manifest verlangt die Sicherung der Existenz, Finanzierung und Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien sowie die Schaffung eines öffentlich-rechtlichen Internets.
Damit gemeint sind Internetplattformen sowie dazugehörige Formate und Dienste, die von öffentlich-rechtlichen Medien betrieben werden. Das Manifest wird schon von mehr als 1 000 Personen und Organisationen unterstützt, darunter unter anderem Jürgen Habermas, Noam Chomsky sowie die International Federation of Journalists.
Ein Beispiel für öffentlich-rechtliches Internet ist eine von ARD, ZDF, BBC und France Télévisions gemeinsam organisierte öffentlich-rechtliche Internetplattform nach dem Modell von YouTube. Darauf sollen neue Debatten-, Informations-, Bildungs-, Kultur- und Unterhaltungsformate mit Nutzerbeteiligung realisiert werden. Im Gegensatz zu den Digitalgiganten wie YouTube, Amazon, Netflix und vielen mehr, haben die öffentlich-rechtlichen Medien einen öffentlichen Auftrag, der qualitativ hochwertige Dienste und Formate fördert.
Skandale rund um Cambridge Analytica als Bedrohung
Die immer neuen Skandale rund um die Firma Cambridge Analytica haben verdeutlicht, dass die reine Profitorientierung der Digitalgiganten eine reale Bedrohung für die Demokratie ist.
Christian Fuchs schreibt dazu:
«Donald Trump, Facebook und Twitter haben voneinander profitiert: der eine politisch und ideologisch, die anderen finanziell. In der EU wurde medien- und digitalpolitisch zu lange versucht, die Innovationen des Silicon Valley zu imitieren. Diese Strategie ist gescheitert. Es gibt kein europäisches Google, Facebook, Twitter oder Amazon. Europas größte Stärke im Bereich der Medien ist die Tradition der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Diese sollten nicht leichtfertigt untergraben, sondern gestärkt, ausgebaut und fit gemacht werden für das digitale Zeitalter. Die Rettung der Demokratie braucht öffentlich-rechtliche Medien und ein öffentlich-rechtliches Internet.»
Verschwörungstheorien, fake news, Online-Hass, Postfaktizität und politische Polarisierung seien Ausdruck des Überbordens der ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Krisen und der gesellschaftlichen Widersprüche. Es gebe keine einfachen Rezepte gegen diese Entwicklungen. Ein Paradigmenwechsel weg von der Boulevardisierung, Kommerzialisierung und Beschleunigung der Medien und der Kommunikation hin zur Schaffung einer neuen (digitalen) Öffentlichkeit sei eine wichtige Voraussetzung für die Stärkung der Demokratie. Dazu bedürfe es einer medien- und digitalpolitischen Transformation und einem digitaldemokratischen Strukturwandel der Öffentlichkeit.
Quelle:
Erzähl mir doch nichts (Internationale Politik und Gesellschaft, IPG-Journal)
Ausserdem:
☛ Zur Bedrohung von Demokratie & Rechtsstaat durch Verschwörungstheorien:
Warum sind Verschwörungstheorien eine Gefahr für demokratische Gesellschaften?
Verschwörungstheorien unterminieren den Rechtsstaat
☛ Falschinformationen und die Vermischung von Fakten und Meinungen – beides sehr stark verbreitet auf Internetplattformen – tragen ebenfalls zur Bedrohung der Demokratie bei. Siehe dazu:
Michel Serres: Keine Freiheit ohne wahre Information
Triumph der Meinung über Fakten, Wahrheit und Fachwissen – das kann nicht gut gehen!
☛ Buchtipp:
Christian Fuchs: „Verschwörungstheorien in der Pandemie – Wie über COVID-19 im Internet kommuniziert wird“, UVK Verlag München 2022.