Die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum hat der «NZZ am Sonntag» (7. März 2021) ein grosses Interview gegeben. Darin ging es auch um Meinungen, Fakten und Verschwörungstheorien.
«Früher stritten wir über Meinungen, heute über Fakten», sagt die Interviewerin Gordana Mijuk. Und fragt, ob Demokratie möglich ist, ohne gemeinsam über Fakten einig zu sein.
Anne Applebaum antwortet:
«Nein. Wir sind derzeit nicht nur in einer demokratischen Krise, sondern auch in einer erkenntnistheoretischen. Eine Krise der Wissenschaft, der Universitäten, der öffentlichen Gesundheit. Das zu beheben, sollte die höchste Priorität der Politik sein. Internetplattformen sind aus meiner Sicht die grösste Ursache der gegenwärtigen Krise.»
Dass die Internetkonzerne eine Gefahr für die Demokratie sind, zeichnet sich immer mehr ab. Siehe dazu auf dieser Website:
Unakzeptabel: Facebook hat QAnon-Verschwörungsideologie gefördert
Facebook fördert Verschwörungstheorien
YouTube als Propagandakanal für Verschwörungstheorien
Die Interviewerin spricht dann den Filterblasen-Effekt an und fragt, ob die Corona-Krise diesen Trend verstärkt habe.
Anne Applebaum antwortet:
«Genau. Es gibt ja noch immer Leute, die glauben, es gibt kein Virus und das Ganze sei nur veranstaltet, um Menschen einzusperren. Diese Denkweise ist nur deshalb möglich, weil alles, was diese Leute konsumieren, auf Facebook, auf ihren Nachrichtensendern oder im Austausch mit ihren Freunden, sie in ihrem Glauben an Verschwörungstheorien bestätigt. Weshalb sollten sie glauben, dass da etwas nicht stimmt.»
Dann fragt die Interviewerin:
«Verschwörungstheorien sind bei Rechtsparteien oft sehr wichtig. Wieso?»
Anne Applebaum antwortet:
«Sie sind ein Mittel, den Glauben in das politische System zu schwächen. Und wenn der Glaube mal weg ist, bieten die rechten Vordenker dem Volk eine radikale Alternative: Stürzt das System! Wir geben euch eine andere Vision von Welt.»
Anmerkungen zu Anne Applebaum:
Die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum hat in ihren Texten seit langem antidemokratische Tendenzen in Europa im Blick. Für ihr Buch «Der Gulag» bekam sie 2004 den Pulitzer-Preis. Mit „Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine“ veröffentlichte sie 2017 eine umfassende Darstellung von Stalins Terrorregime gegen die Ukraine. Der erzwungene Hungertod von über drei Millionen Ukrainern in den Jahren 1932 und 1933, Holodomor genannt, ist eines der grössten Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts. Ihr neustes Buch «Die Verlockung des Autoritären» beschreibt die antidemokratischen Tendenzen nicht nur in den USA, sondern auch in Polen, Ungarn, Grossbritannien und Spanien. Es erscheint am 12. März 2021.
Anne Applebaum schreibt zudem für das amerikanische Magazin «Atlantic».
Weitere Anmerkung:
☛ Anne Applebaum hat auf die Gefährdung demokratischer Gesellschaften durch Verschwörungstheorien hingewiesen. Es gibt eine Reihe von Faktoren, die dazu beitragen, dass Verschwörungstheorien die Demokratie und den Rechtsstaat unterminieren können.
Siehe dazu:
Warum sind Verschwörungstheorien eine Gefahr für demokratische Gesellschaften?
Verschwörungstheorien unterminieren den Rechtsstaat
☛ Anne Applebaum spricht im Interview auch die Bedeutung gemeinsam geteilter Fakten an. Hier gibts ein lesenswertes Buch dazu:
Und hier ein ausgiebiger Text zum Thema: