Wer sich vom Algorithmus des mächtigsten Buchhändlers der Welt beraten lässt, bekommt rasch Desinformation präsentiert. Eine auf netzpolitik.org publizierte Recherche zeigt, dass Amazon eine Schleuder für Verschwörungsmythen ist – auch zur Corona-Pandemie. Wer auf Amazon stöbert, den lockt die Plattform womöglich geradewegs in einen Kaninchenbau der Verschwörungstheorien.
Amazon ist der mächtigste Buchhändler der Welt. Vor zwei Jahren hielt Amazon gemäss einer Studie mit rund 20 Prozent einen bedeutenden Anteil am deutschen Buchmarkt. Die Empfehlungen der Plattform sind deshalb einflussreich.
Doch wenn es um seriöse Buchempfehlungen geht, ist Amazon schwach. Die Plattform empfiehlt Verschwörungserzählungen, Antisemitismus und Desinformation genauso wie wissenschaftlich fundierte Sachbücher.
Denn Amazon hat die Bücher nicht nur im Sortiment. Seine Algorithmen setzen auserwählte Bücher den Kundinnen und Kunden auch noch prominent vor die Nase. Davon kann jedoch eine Gefahr für demokratische Gesellschaften ausgehen, wenn Verschwörungstheorien propagiert werden. Siehe dazu:
Warum sind Verschwörungstheorien eine Gefahr für demokratische Gesellschaften?
Wer sich auf Amazon ein Buch anschaut, erhält im Bereich „Weitere Artikel entdecken“ andere Bücher empfohlen. Mit einem Klick auf eine solche Empfehlung öffnet sich die entsprechende Produktseite, auf der dann eine neue Palette an Empfehlungen vorgestellt wird.
Die Autoren des Beitrags auf netzpolitik.org haben 355 solcher Amazon-Empfehlungen analysiert, zu Suchbegriffen wie «Corona», «Krebs» und «Flache Erde». Über die Hälfte der untersuchten Lesetipps bezog sich auf Bücher mit problematischem Inhalt. In 124 Fällen schlug der Amazon-Algorithmus Bücher vor, deren Inhalt eindeutig verschwörungsideologisch ist. Zahlreiche von ihnen propagieren zudem rechtsextreme oder rassistische Erzählungen.
Der Amazon-Algorithmus schlägt Desinformation vor
Selbst wer sich bereits selbst genau informiert hat und gezielt ein fundiert recherchiertes Buch kaufen möchte, den kann die Amazon-Empfehlung dazu verleiten, eventuell doch noch etwas Desinformation in den Einkaufswagen zu legen. Die Recherche der Autoren hat gezeigt, dass Amazon Bücher mit Desinformationen nicht nur denjenigen zugänglich macht, die womöglich gezielt nach ihnen suchen. Die Plattform schlägt sie Kundinnen und Kunden sogar aktiv vor. Dies geschieht auch, wenn jemand gezielt nach wissenschaftlich fundierten Sachbüchern sucht.
David Schraven ist Geschäftsführer von Correctiv und Mitherausgeber eines seriös recherchierten Corona-Buchs, das bei den Amazon-Empfehlungen mit zahlreichen Verschwörungsbüchern verknüpft ist. Er kritisiert Amazon scharf: „Da macht man sich viel Arbeit und dann wird die Recherche mitten im Müll platziert, der nur nach Aufmerksamkeit hascht.“ Anstelle von Aufklärung würden so Hass, Dummheit und Zwietracht hervorgehoben: „Amazon sollte sich überlegen, ob das so eine tolle Idee ist. So macht der Konzern die Welt kaputt.“
Dummheit, Hass und Zwietracht statt Information und Aufklärung
Welch schwerwiegende Folgen solche Amazon-Empfehlungen haben könnten, legt eine sozialpsychologische Untersuchung aus Großbritannien nahe. An der Universität in Kent konnten Daniel Jolley und Karen M. Douglas zeigen, dass schon einmaliger Kontakt mit Verschwörungserzählungen einen Unterschied machen kann.
Der Sozialpsychologe Jolley warnt zum Beispiel vor den Auswirkungen der Amazon-Algorithmen, die Bücher von Impfgegnerinnen und -gegnern neben seriösen Sachbüchern empfehlen: „Es ist zweifellos plausibel, dass der Glaube an solche Erzählungen stärker werden kann, wenn Menschen ihnen wiederholt ausgesetzt sind. Das kann sich wiederum auf ihr Verhalten auswirken.“
Empfohlene Bücher könnten zudem eine verschwörungsideologische Weltanschauung von Nutzerinnen und -nutzern verfestigen: „Es ist gewiss möglich, dass durch die Konfrontation mit mehreren Buchempfehlungen zu einem bestimmten Thema der Eindruck entsteht, es gebe einen Konsens, den tatsächlich viele Menschen und Organisationen teilen.“ Das könne Menschen wiederum dazu bringen, sich weiterhin mit solchen Inhalten auseinanderzusetzen. „Amazon hat dieselbe Verantwortung wie andere Social-Media-Plattformen, ethisch zu handeln“, erklärt Jolley.
Attentate wie das in Hanau am 19. Februar 2020 oder in El Paso am 3. August 2019 illustrieren, wie Verschwörungserzählungen bei der Radikalisierung von Terroristen eine Rolle gespielt haben. In diesen und weiteren Fällen haben die Täter ihre Gewalt unter anderem mit Verschwörungsmythen zu legitimieren versucht. Verschwörungstheorien wie QAnon können Menschen zu der Überzeugung bringen, dass diabolische Gruppen im Geheimen Böses gegen die Bevölkerung unternehmen. Eine vermeintliche Bedrohung, die Verschwörungsgläubige dazu verleiten kann, sich dagegen zu wehren und eine Gewalttat zu begehen.
Quelle:
Desinformation: So penetrant empfiehlt Amazon den Kauf von Verschwörungsliteratur (netzpolitik.org)
Anmerkungen:
Amazon, Google, Facebook & Co. legen nicht offen, wie ihre Algorithmen funktionieren. Klar ist allerdings, dass sie so konstruiert sind, dass sie die Nutzerinnen und Nutzer möglichst lange auf der Plattform halten. Das ermöglicht es, ihnen möglichst viel Werbung zu verkaufen. Wer nach X sucht, dem wird zu diesem Zweck X in immer extremeren Varianten vorgeschlagen. Das ist der beste Weg für die Plattformen, um Geschäfte zu machen, und der schlechteste Weg für demokratische Gesellschaften. Die Plattformen tragen so zur Radikalisierung bei. Sie verdienten an der Verbreitung von Extremismus und fördern die Polarisierung. Von sich aus werden die Plattformen ihr lukratives Geschäftsmodell nicht aufgeben. Deshalb braucht es klare Regulierungen, die demokratisch legitimiert sind. Politik und Zivilgesellschaft müssen dieses Thema mit grossem Nachdruck angehen.
Guten Einführungen in dieses Thema bieten folgende Bücher:
„Übermacht im Netz“. Warum wir für ein gerechtes Internet kämpfen müssen von Ingrid Brodnig