Algorithmen sind Handlungsvorschriften zur Lösung von Problemen. Bei Social-Media-Kanälen wie YouTube, Facebook & Co. hat der Algorithmus hauptsächlich die Aufgabe, zur richtigen Zeit die richtigen Inhalte an interessierte User auszuspielen. Damit sollen die Interaktionsraten von Usern gesteigert und die Verweildauer auf der jeweiligen Plattform verlängert werden. So können die Konzerne mehr Werbung verkaufen und ihre Einnahmen steigern. Was harmlos klingt, hat einschneidende politische Konsequenzen auf demokratische Gesellschaften: Algorithmen schaffen optimale Bedingungen für Polarisierung und Spaltung, was sich bis hin zur Entwicklung von digitalen Stämmen steigern kann (siehe dazu: Tribalismus, digitaler) und Verschwörungstheorien Tür und Tor öffnet.
Die Historikerin und Autorin Anne Applebaum schreibt über Algorithmen:
«Die Algorithmen der sozialen Medien….fördern die falsche Wahrnehmung der Welt. Die Menschen klicken die Nachrichten an, die sie sehen wollen; daraufhin zeigen ihnen Facebook, YouTube und Google mehr von dem, was ihnen gefällt, egal, ob es sich dabei um eine bestimmte Seifenmarke oder um eine politische Ansicht handelt. Auf diese Weise radikalisieren die Algorithmen die Nutzer: Wer sich auf YouTube völlig legitime Videos von Migrationsgegnern ansieht, landet mit wenigen Klicks auf den Seiten von Rechtsradikalen und gewalttätigen Fremdenhassern. Weil die Algorithmen darauf ausgerichtet sind, uns möglichst lange im Internet festzuhalten, begünstigen sie Emotionen, vor allem Wut und Angst. Und weil die Seiten süchtig machen, beeinflussen sie Menschen auf eine Weise, die nicht zu erwarten war. Wut wird zur Gewohnheit. Spaltung wird normal.
Auch wenn im Westen die sozialen Medien noch nicht die wichtigste Nachrichtenquelle sind, haben sie grossen Einfluss darauf, wie Politiker und Journalisten die Welt interpretieren und darstellen. Die Polarisierung im Internet ist längst in der Wirklichkeit angekommen.
Das Ergebnis ist eine verschärfte Lagerbildung, die das Misstrauen gegenüber ‘normaler’ Politik, ‘etablierten’ Politikern, ‘anerkannten’ Experten und ‘Mainstream’-Institutionen wie Gerichten, Polizei und Behörden weiter schürt. Kein Wunder. Mit der zunehmenden Polarisierung geraten Beamte und staatliche Angestellte zunehmend zwischen die politischen Fronten und stehen im Verdacht, von der Gegenseite vereinnahmt worden zu sein. Es kommt nicht von ungefähr, dass PiS, Brexiteers und Trump-Regierung Beamte und Diplomenten angreifen. Es ist kein Zufall, dass in vielen Ländern Richter und Gerichte zur Zielscheibe von Kritik, Anfeindung und Wut werden. In einer polarisierten Welt gibt es keine Neutralität, denn es gibt keine überparteilichen und apolitischen Institutionen.»
Über toxische und gesunde Polarisierung
Nicht jede Polarisierung ist politisch gefährlich. In einer Demokratie ist es wichtig, dass Parteien mit ihren Programmen unterschiedliche Angebote machen. Diese gesunde Profilierung kann auch bis zu einem gewissen Grad zur Lagerbildung führen. Sie darf aber nicht soweit gehen, dass politische Gegner sich als Feinde gegenüberstehen. Den Feind wird die politische Legitimation abgesprochen. Die Produktion von Feindbildern geht oft mit der Verbreitung von Verschwörungstheorien einher. Die Algorithmen der sozialen Medien fördern ausschliesslich diese toxische Form der Polarisierung und zugleich die Verbreitung von Verschwörungstheorien.
Steven Levitsky und Daniel Ziblatt schreiben dazu in ihrem Buch «Wie Demokratien sterben»:
Polarisierung kann demokratische Normen zerstören. Wenn sozioökonomische, ethnische oder religiöse Differenzen extrem parteilich werden, sodass sich die Gesellschaft in politische Lager spaltet, deren Weltanschauungen nicht nur unterschiedlich sind, sondern sich gegenseitig ausschliessen, sind Toleranz und Achtung kaum noch aufrechtzuerhalten. Manche Polarisierungen sind für die Demokratie gesund und sogar notwendig. Tatsächlich lehrt uns die Geschichte der westeuropäischen Demokratien, dass Normen selbst dann Bestand haben können, wenn Parteien durch erhebliche ideologische Differenzen getrennt sind.
Wenn eine Gesellschaft aber so tief gespalten ist, dass die Parteien absolut unvereinbare Weltanschauungen vertreten, und insbesondere dann, wenn ihre Mitglieder auch sozial derart getrennt sind, dass sie kaum miteinander in Berührung kommen, wird die normale Rivalität zwischen Parteien abgelöst von einer wahrgenommenen Bedrohung durch die jeweils andere Seite. Da die gegenseitige Achtung schwindet, sind die Politiker versucht, die Zurückhaltung aufzugeben und mit allen Mitteln für den eigenen Sieg zu kämpfen. Dies kann zur Entstehung von systemfeindlichen Gruppen führen, die die demokratischen Regeln ganz ablehnen. Wenn dies geschieht, stecht die Demokratie in ernsten Schwierigkeiten.»
Genau diese Entwicklungen werden durch die Algorithmen von Facebook, Twitter, YouTube und Co. gefördert.
Was ist zu tun? Als Erstes ist zu fordern, dass die Algorithmen offengelegt werden und für unabhängige Forschung zur Verfügung stehen. Dann erst lässt sich beurteilen, in welcher Art sie verändert werden müssen, damit sie demokratiefreundlich agieren.
Quellen:
«Die Verlockung des Autoritären – warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist», von Anne Applebaum, Siedler Verlag 2021.
«Wie Demokratien sterben», von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, DVA Verlag 2018.
Ausserdem:
☛ «In einer polarisierten Welt gibt es keine Neutralität, denn es gibt keine überparteilichen und apolitischen Institutionen.» – Das zeigt sich zum Beispiel bei Auseinandersetzungen um «Wikipedia». Der Versuch, auch bei politisch umstrittenen Themen neutrales Wissen zur Verfügung zu stellen, ist sehr anspruchsvoll. Es ist nicht überraschend, dass Wikipedia von Extremisten regelmässig diffamiert und angegriffen wird. Siehe dazu:
Wikipedia – ein Lieblingsfeind der Verschwörungsgläubigen
☛ Ein weiterer Beitrag zum Thema «Polarisierung»:
Polarisierung & Verschwörungstheorien
☛ Die Philosophin Marie-Luisa Frick zum Unterschied zwischen Gegnerschaft und Feindschaft: