Die Grazer Religionswissenschaftlerin Theresia Heimerl hat bei einem Vortrag auf Ähnlichkeiten zwischen der antiken Gnosis und aktuellen Verschwörungstheorien säkularer Prägung hingewiesen.
Die Gnosis gilt als größte Herausforderung der frühen Christenheit und war über Jahrhunderte ein Feld der intellektuellen und theologischen Auseinandersetzung.
Gnostische Strömungen wie zum Beispiel der Manichäismus gehen von einem dualistischen Weltbild aus, basierend auf Gegensätzen zwischen Gut und Böse, Geist und Fleisch, Licht und Finsternis.
Auch wird neben einer allumfassenden Erlöser-Gottheit ein böser Schöpfergott angenommen, der mit der Gestaltung der Materie in Verbindung gebracht wird. Das Böse wird als von Beginn weg anwesend betrachtet.
Die Gnosis gehörte zu den Hauptgegnern des frühen Christentums. Manche ihrer Auffassungen fanden sich dennoch in einigen Gemeinden, wurden jedoch vom Kanon des Neuen Testaments abgelehnt.
Die Religionswissenschaftlerin ging in ihren Ausführungen ausdrücklich auf gegenwärtige Verschwörungsmythen rund um die Corona-Pandemie und den Sturm auf das US-Kapitol ein. Sie kam dabei auf das Stichwort «QAnon» zu sprechen. In einer religionslosen Ausprägung zeige sich hier das Narrativ einer Weltverschwörung in Form einer subtilen Versklavung der Menschheit durch eine machtvolle Elite.
Gemeinsamkeiten zwischen Gnosis und modernen Verschwörungstheorien
Heimerl hält die modernen Verschwörungstheorien wie QAnon an manchen Punkten mit den gnostischen Sekten der Antike für vergleichbar. Im Filmbereich habe dies schon der Kultfilm „Matrix“ auf den Punkt gebracht. Von dort stamme der Kampfruf, den auch viele Verschwörungsgläubige teilen:
„Wake up, the matrix has got you. Wach auf, erkenne, wie es um die Welt wirklich bestellt ist, nämlich schlecht, und welche bösen Mächte dich gefangen halten in deiner Unwissenheit.“
Dazu erklärt die Religionswissenschaftlerin:
«Das gnostische Weltdeutungsmodell nimmt das fundamentale Unbehagen an der Welt und der eigenen Existenz darin ernst. Es setzt nicht beim Intellekt an, wie so viele philosophische Angebote der Spätantike, nicht beim Ritual, wie die Mysterienkulte, nicht bei Liebe und verinnerlichter Ethik wie das Christentum. Die Gnosis und der Manichäismus setzen ganz tief unten an: beim Gefühl. Beim Gefühl des Verloren- und Betrogenseins. Beim Gefühl, von unbekannten Mächten in Unwissenheit gefangen gehalten zu werden. Und bei dem Gefühl, dass einem diese Mächte das vorenthalten, was man eigentlich haben, ja mehr noch, was man eigentlich sein könnte: Ein Königssohn in einem goldglänzenden himmlischen Reich» Der letzte Satz bezieht sich auf ein Zitat aus dem Perlenlied in den Thomasakten, einem frühchristlichen apokryphen Text, der ob seines gnostischen Inhalts nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurde.
Die Gnosis des 21. Jahrhunderts sei säkularisiert, erklärt Heimerl. Dennoch übe die gnostische Weltdeutung in ihren beiden Grundelementen des Dualismus – Dunkel und Licht bzw. Gut und Böse – und der Verschwörung dunkler Mächte eine Faszination aus, der sich viele Menschen nur schwer entziehen können: „Sie ist heute mindestens ebenso eine Herausforderung wie in den ersten Jahrhunderten des Christentums. Sie ist aber längst nicht mehr nur eine Herausforderung für das Christentum und seine Vertreter.“
Quelle:
Theologin vergleicht Verschwörungstheorien mit antiker Gnosis (religion.orf)
Anmerkungen:
Dass viele modernen Verschwörungstheorien einen ausgeprägten Gut-Böse-Dualismus zur Grundalge haben und damit eine ähnliche Struktur aufweisen wie religiösen Bewegungen wie dem Manichäismus und der Gnosis ist viel zu wenig bekannt. Dieses Wissen ist aber nützlich, um moderne Verschwörungstheorien zu verstehen, auch mit ihren Risiken und Gefahren, zum Beispiel hinsichtlich der Radikalisierung.
Siehe dazu auch:
Manichäismus & Verschwörungstheorien
«Gut gegen Böse» – das Grundnarrativ in Verschwörungstheorien
Religiöse Elemente in Verschwörungstheorien – woran sind sie erkennbar?
Gnosis und Verschwörungstheorien
Als Beispiel für esoterischen Dualismus in gegenwärtigen Verschwörungstheorien:
Dualismus nach Christina von Dreien